56
»ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham« : eben
das ist heute der Übermensch für den Menschen, und
hinter der »prachtvollen, nach Beute und Sieg lüstern
schweifenden blonden Bestie«, mit der eine Literatur-
generation geweidet hat, würde er nichts wiederfinden
als eben die »Herdentiermoral«, die er verpönte
und die sich nun mit höchster Subalternität am
Machtgedanken gütlich tut. Ist es die Erfüllung, daß
dieser des Schutzes der Lüge bedarf, um die Beute
zu decken, und daß der Kopfjäger als Skalp den
Posten davonträgt ? Ließ jener die Bestie solcher-
maßen schweifen : Der jüdische Apotheker Georg Grünwald hatte seinen Laden in der
Prenzlauer-Allee im Norden von Berlin. Eines Tages, bald nachdem
der Brand im Reichstag ausgebrochen war, etablierte sich gegenüber
dem Laden ein anderer Apotheker. Mitte April stürmte ein Trupp Braunhemden in das Geschäft.
»Jude, laß die Rollbalken runter und sperre deine Butike, oder es
könnte dir schlecht ergehn !« Grünwald erwiderte, er sei seit zwanzig Jahren als Apotheker auf
dem Platze, nicht er sei daher der Konkurrent, sondern jener. In der Nacht nach dieser Auseinandersetzung verschwand Georg
Grünwald spurlos aus Berlin. Seine Frau alarmierte das nächste Polizei-
revier. Zwei Tage vergingen. Am dritten Tag rief das Revier die Wohnung
der Apothekersfrau an. Sie können sich den Leichnam ihres Maunes
in der städtischen Leichenkammer zur Beerdig ng holen. Die Frau lief auf das Polizeirevier. »Was ist meinem Manne
zugestoßen ?« Achselzucken . . . Frau Grünwald dachte an den neuen
Apotheker . . . Zwei Privatdetektive legten sich auf die Fährte der Mörder. In
derselben Nacht wurde Frau Grünwald in ihrer Wohnung vergiftet aufge-
funden. Der Polizeibericht sagte : Selbstmord. Für das Polizeirevier war
der Akt geschlossen. In der Prenzlauer-Allee gibt es jetzt nur noch einen einzigen,
deutschen Apotheker. Und tritt etwa hier »das frohlockende Ungeheuer in
die Unschuld des Raubtiergewissens zurück« : Aus dem Reisebericht eines Schweizers : Ich kam nach Hessen. In
einem alten Gasthaus erzählten mir ein paar behäbige Kirchengänger
Iachend, wie sie am Tage des Boykotts ihren Spaß gehabt hätten mit
einem Krämer, den zwei SA.-Männer mit vorgehaltenen Karabinern
auf den Dorfplatz trieben. Der Jude hätte um sein Leben gefleht und
gewinselt, weil er dachte, seine letzte Stunde wäre gekommen. Da
das ist heute der Übermensch für den Menschen, und
hinter der »prachtvollen, nach Beute und Sieg lüstern
schweifenden blonden Bestie«, mit der eine Literatur-
generation geweidet hat, würde er nichts wiederfinden
als eben die »Herdentiermoral«, die er verpönte
und die sich nun mit höchster Subalternität am
Machtgedanken gütlich tut. Ist es die Erfüllung, daß
dieser des Schutzes der Lüge bedarf, um die Beute
zu decken, und daß der Kopfjäger als Skalp den
Posten davonträgt ? Ließ jener die Bestie solcher-
maßen schweifen : Der jüdische Apotheker Georg Grünwald hatte seinen Laden in der
Prenzlauer-Allee im Norden von Berlin. Eines Tages, bald nachdem
der Brand im Reichstag ausgebrochen war, etablierte sich gegenüber
dem Laden ein anderer Apotheker. Mitte April stürmte ein Trupp Braunhemden in das Geschäft.
»Jude, laß die Rollbalken runter und sperre deine Butike, oder es
könnte dir schlecht ergehn !« Grünwald erwiderte, er sei seit zwanzig Jahren als Apotheker auf
dem Platze, nicht er sei daher der Konkurrent, sondern jener. In der Nacht nach dieser Auseinandersetzung verschwand Georg
Grünwald spurlos aus Berlin. Seine Frau alarmierte das nächste Polizei-
revier. Zwei Tage vergingen. Am dritten Tag rief das Revier die Wohnung
der Apothekersfrau an. Sie können sich den Leichnam ihres Ma
in der städtischen Leichenkammer zur Beerdig ng holen. Die Frau lief auf das Polizeirevier. »Was ist meinem Manne
zugestoßen ?« Achselzucken . . . Frau Grünwald dachte an den neuen
Apotheker . . . Zwei Privatdetektive legten sich auf die Fährte der Mörder. In
derselben Nacht wurde Frau Grünwald in ihrer Wohnung vergiftet aufge-
funden. Der Polizeibericht sagte : Selbstmord. Für das Polizeirevier war
der Akt geschlossen. In der Prenzlauer-Allee gibt es jetzt nur noch einen einzigen,
deutschen Apotheker. Und tritt etwa hier »das frohlockende Ungeheuer in
die Unschuld des Raubtiergewissens zurück« : Aus dem Reisebericht eines Schweizers : Ich kam nach Hessen. In
einem alten Gasthaus erzählten mir ein paar behäbige Kirchengänger
Iachend, wie sie am Tage des Boykotts ihren Spaß gehabt hätten mit
einem Krämer, den zwei SA.-Männer mit vorgehaltenen Karabinern
auf den Dorfplatz trieben. Der Jude hätte um sein Leben gefleht und
gewinselt, weil er dachte, seine letzte Stunde wäre gekommen. Da
| n
Jerusalemer Konvolut, fol. [56] recto
Pagination oben rechts: "56". (Tinte, schwarz (Karl Kraus))
Textträger
Standort, Signatur:
Grundschicht, Material: Fahnenabzug, Höhe 210 mm, Breite 142 mm
Zustand
Bibliotheksstempel der National Library of Israel, Jerusalem, recto, unten rechts.
Weitere Textschichten
- Tinte, schwarz (Karl Kraus)
- Bleistift
Datierung (terminus post quem)
Grundschicht: 23. 04. 1933 (zitierter Text)