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Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen ;
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.
Hier aber war’s !
Etwa in dem literarischen Bekenntnis jenes Killinger,
der nicht nur so heißt, sondern handelt, und der
unter dem Titel »Ernstes und Heiteres aus dem
Putschleben« das Heitere wie folgt besorgt hat : Ein Weibsbild wird mir vorgeführt. Das typische Schwabinger
Malweibchen. Kurzes, strähniges Haar, verlotterter Anzug, freches,
sinnliches Gesicht, wüste Augenringe. »Was ist mit dir los ?« Sie ist renitent und spuckt, mit Recht, einem der
Ritter ins Gesicht. »Fahrerpeitsche. Dann laufen lassen«, sage ich kurz. Zwei Mann
packen sie. Sie will beißen. Eine Maulschelle bringt sie zur Räson.
Im Hof wird sie über die Wagendeichsel gelegt und so
lange mit Fahrerpeitschen bearbeitet, bis kein weißer Fleck
mehr auf ihrer Rückseite war. »Die spuckt keinen Brigadier mehr an. Jetzt wird sie erst mal
drei Wochen auf dem Bauche liegen«, sagt Feldwebel
Herrmann . . . Getan und beschrieben von einem der höchsten
Würdenträgerder Staatsgewalt, die Greuelmeldun-
gen mit Zuchthaus bestraft. Faustnatur, mag sein ;
doch Übermensch ? War schon die Einführung
Hitlers in die Welt Wagners ein Mißgriff, so ist es
vielleicht eine noch größere Fahrlässigkeit, daß man
ihn auf die geistige Verwandtschaft mit Nietzsche
aufmerksam gemacht hat, ja geradezu ein faux pas,
ihn im Weimarer Kreise neben der Büste zu photo-
graphieren. Eine französische Zeitung hat die Auf-
nahme veröffentlicht und ein englischer Gelehrter weist
auf das Unpassende der Verbindung mit einem Autor
hin, der gerade mit dem Deutschtum seine bedenklich-
sten Wortspiele trieb, wie jenes »Horneo und Borneo«
der nicht nur so heißt, sondern handelt, und der
unter dem Titel »Ernstes und Heiteres aus dem
Putschleben« das Heitere wie folgt besorgt hat : Ein Weibsbild wird mir vorgeführt. Das typische Schwabinger
Malweibchen. Kurzes, strähniges Haar, verlotterter Anzug, freches,
sinnliches Gesicht, wüste Augenringe. »Was ist mit dir los ?« Sie ist renitent und spuckt, mit Recht, einem der
Ritter ins Gesicht. »Fahrerpeitsche. Dann laufen lassen«, sage ich kurz. Zwei Mann
packen sie. Sie will beißen. Eine Maulschelle bringt sie zur Räson.
Im Hof wird sie über die Wagendeichsel gelegt und so
lange mit Fahrerpeitschen bearbeitet, bis kein weißer Fleck
mehr auf ihrer Rückseite war. »Die spuckt keinen Brigadier mehr an. Jetzt wird sie erst mal
drei Wochen auf dem Bauche liegen«, sagt Feldwebel
Herrmann . . . Getan und beschrieben von einem der höchsten
Würdenträger
gen mit Zuchthaus bestraft. Faustnatur, mag sein ;
doch Übermensch ? War schon die Einführung
Hitlers in die Welt Wagners ein Mißgriff, so ist es
vielleicht eine noch größere Fahrlässigkeit, daß man
ihn auf die geistige Verwandtschaft mit Nietzsche
aufmerksam gemacht hat, ja geradezu ein faux pas,
ihn im Weimarer Kreise neben der Büste zu photo-
graphieren. Eine französische Zeitung hat die Auf-
nahme veröffentlicht und ein englischer Gelehrter weist
auf das Unpassende der Verbindung mit einem Autor
hin, der gerade mit dem Deutschtum seine bedenklich-
sten Wortspiele trieb, wie jenes »Horneo und Borneo«
| einer
Jerusalemer Konvolut, fol. [58] recto
Pagination oben rechts: "58". (Tinte, schwarz (Karl Kraus))
Textträger
Standort, Signatur:
Grundschicht, Material: Fahnenabzug, Höhe 210 mm, Breite 142 mm
Zustand
Bibliotheksstempel der National Library of Israel, Jerusalem, recto, unten rechts.
Weitere Textschichten
- Tinte, schwarz (Karl Kraus)
Datierung (terminus post quem)
Grundschicht: 30. 06. 1933 (zitierter Text)