Bleibt Gottfried Benn . Er ist erst hinterdrein zur Bewegung gestoßen, hat die vollkommene Wendung von links nach rechts durchgemacht und wurde darum von emigrierten Intellektuellen angefochten, über die ich mir ja selten im Zweifel gewesen bin, während er mir immer verdächtig war. Aber ein Neophyt leistet noch wertvollern Dienst als der Philosoph, der sich schon vor dem Durchbruch des Gedankens angestrengt hat, und sein Bekenntnis ist nicht nur für den Nationalsozialismus als Beweis der Bekehrungsgewalt erheblich, als Sacrificium intellectus, als Dokument einer Ungeistesgegenwart, die der Lage gewachsen ist, sondern auch für den Außenbetrachter als Beispiel dessen, was Literaten imstand sind. Daß sie bei arischer Herkunft noch mehr leisten, ist eine alte Erfahrung, aber man wird sehen, daß Benn trotz radikaler Abkehr von intellektuellen Lebensinhalten die formale Schulung nicht verleugnet, sondern unversehrt ins neue Haus bringt. Die Rede, zu der er gestellt wurde, hat er im Berliner Rundfunk zwischen Gebell geballt und in der ‚Deutschen Allgemeinen Zeitung‘ veröffentlicht , welche bekanntlich manchmal wider den Stachel löcken konnte und an der Spitze derselben Nummer »den gestirnten Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns « als Motto führte, nach der Weisung Kants , der durch ein bedauerliches Mißverständnis gleichfalls zur philosophischen Stütze des Dritten Reiches berufen wurde, sich aber den Imperativ ganz anders gedacht hat als »Juda verrecke !« Oder selbst nur als Verordnung der Gauleiter, beim Horst Wessel -Lied »während des ersten und vierten Verses den rechten Arm zu erheben«, weil sonst der Schnellrichter drei Monate gibt . Kategorischer als Immanuel Kant tritt Gottfried Benn auf den Plan. Er liefert das Äußerste, was Wortverfügung, die sich dem Furor anpaßt und nun vielleicht wirklich von ihm hin- und von der eigenen Spur weggerissen ist, zu bieten vermöchte ; und wenn der »Mordsturm 33« das, was ihm hier zur philosophischen Deutung seines Tuns geboten wird, nur annähernd so gut versteht wie Goebbels , so ist, falls der Lyriker des Siebenten Ringes zu dem des Dritten Reiches emporsteigen sollte, Benn dessen Prosaiker, echter als Diebold , stärker als Mirko Jellusich , dessen »Weltruf als Dichter « neulich von unserer »Dötz« festgestellt wurde und der ja, nach einem Roman zu Mussolinis Ruhm und einer Novelle zu Drehers Bier , jedenfalls »der größte Schriftsteller Österreichs « ist. Daß Benn in polemischer Hinsicht selbst den Autor von »Juden raus ! « hinter sich läßt, springt vielleicht aus dem Grund nicht in die Augen, weil er doch »viel auf Stil sieht « und die gedankliche Substanz ungleich nuancierter darbringt, nicht ohne sich mit einem reichen Vorrat an philosophischem, geschichtlichem, ja geologischem Wissen eingedeckt zu haben. Eine solidere geistige Basis und eine schmuckere feuilletonistische Form für das, was die Männer der Tat einstweilen verrichten, wird sich kaum auftreiben lassen. Benn ist sich ja keineswegs im Unklaren darüber, daß er es vor der Partei, deren Geistigkeit er vertritt, als Intellektueller nicht leicht hat, aber er scheint von der Hoffnung durchdrungen, daß entschlossener Fanatismus den Mangel wettmachen könne. Er geht denn auch gleich scharf ins Zeug, indem er es ablehnt, mit Flüchtlingen , die ihm Abtrünnigkeit vorwarfen, »über die deutschen Vorgänge zu sprechen«, weil man solches nur mit solchen dürfe, die sie innerhalb Deutschlands selbst erlebt haben . Nur die, die durch die Spannungen der letzten Monate hindurchgegangen sind, die von Stunde zu Stunde, von Zeitung zu Zeitung, von Umzug zu Umzug — gemeint ist der der Massen und nicht der Einzelnen, die in Angst vor den Aufbrechern jede Nacht ihr Quartier wechselten — von Rundfunkübertragung zu Rundfunkübertragung alles dies fortlaufend — gemeint ist : ausharrend — aus unmittelbarer Nähe miterlebten, Tag und Nacht mit ihm rangen, nur solche zählen mit, nur mit solchen kann Benn reden. Aber mit Flüchtlingen nicht ! Denn die (und nun redet er) haben die Gelegenheit versäumt, den ihnen so fremden Begriff des Volkes nicht gedanklich, sondern erlebnismäßig, nicht abstrakt, sondern in gedrungener Natur in sich wachsen zu fühlen, haben es versäumt, den . . Begriff »das Nationale« in seinen echten überzeugenden Ausdrücken als Erscheinung wahrzunehmen, haben es versäumt, die Geschichte form- und bilderbeladen bei ihrer vielleicht tragischen, aber jedenfalls schicksalsbestimmten Arbeit zu sehen. Aber natürlich haben sie die Gelegenheit versäumt, darin besteht ja eben die Eigenart dessen, der es vorgezogen hat, Flüchtling zu sein. Die sie nicht versäumt haben, die erlebnismäßig dabei waren, wurden von der gedrungenen Natur bei Nacht aus den Betten geholt ; wenige haben noch die bilderbeladene Geschichte in der ‚Berliner Illustrierten‘ zu Gesicht bekommen, viele die tragische Arbeit mitgemacht, manche wissen nichts mehr davon. (»Das Nationale« ist bei uns noch ein Polizeibegriff.) Benn meint aber die andern, die »wenngleich anfangs widerstrebenden Betrachter«, welche die schöpferische Wucht zu einer weitertreibenden menschlichen Gestaltung führte. Das eben ist sein Fall, während jene nur weitergetrieben wurden, und darum kann er sich mit ihnen kaum verständigen. Er deutet an, daß er im Problematischen immer schon anderer Meinung war als sie. Nämlich wegen des Begriffes Barbarei. Er sagt ihnen klipp und klar : Sie stellen es so dar, als ob das, was sich heute in Deutschland abspielt, die Kultur bedrohe, die Zivilisation bedrohe, als ob eine Horde Wilder die Ideale schlechthin der Menschheit bedrohe, aber, und so lautet meine Gegenfrage, wie stellen Sie sich zum Beispiel das 12. Jahrhundert vor, den Übergang vom romanischen zum gotischen Gefühl, meinen Sie, man hätte sich das besprochen ? . . Man hätte abgestimmt : Rundbogen oder Spitzbogen ; man hätte debattiert über die Apsiden : rund oder polygon ? Mit nichten ; und die Intellektuellen sollten sich bemühen, nur das Elementare, das Stoßartige, das unausweichliche Phänomen zu sehen und nicht so, wie ihr »bürgerliches 19. Jahrhundert-Gehirn« die Geschichte betrachtet . Benn deutet also an, daß Blut fließen muß, damit endlich architektonische Fragen gelöst werden können, welche freilich, wie von kunsthistorischer Seite eingewendet wird, auch schon in jener Zeit auf Konzilen zu ruhiger Aussprache gelangt sind und vor allem nach den Plänen schlichter Bauhüttler, die noch nicht einmal das schwierige Rezept Uhlands befolgt haben, »Herzblut« (und fremdes) »in den Mörtel zum Bau der deutschen Freiheit zu mischen« . Wenn wir nun noch den kulturhistorischen Einwand abweisen, daß eine unblutige Weltbetrachtung vielleicht auch eine Errungenschaft sei, die das bürgerliche 19. Jahrhundert-Gehirn einer Revolution verdankt, obschon einer französischen, so möchten wir Herrn Benn doch immerhin eines zu bedenken geben : die architektonische Entwicklung mag wie alle Lebensdinge von Umsturz, Krieg und Pestilenz beeinflußt sein, und wenn es Ruinen gibt, so zuweilen auch neues Leben , das aus ihnen blüht ; aber ebenso gewiß ist, daß uns ein künftiger Baustil, und einer, vor dem der Genius der Menschheit vermutlich schon heute sein Haupt verhüllt, um den Preis so vieler wertvoller Menschenleben — und ich weiß von etlichen — denn doch zu teuer erkauft wäre. Sein Glaube an eine geschichtliche Zwangsvollstreckung, die in Wahrheit so disponibel ist wie das Wort des Literaten ; sein Vertrauen in eine Notwendigkeit, die nicht so unabwendbar scheint wie der durch Organisation entfesselte Zufall — solches Zurechtlegertum ist wohl mehr Sache dessen, der sich einen freien Kopf bewahrte, weil ihn der Ziegelstein nicht getroffen hat. Er wird es einst mit seinem Gewissen auszumachen haben, ob der Unterschlupf auch die Gelegenheit war, geschichtsphilosophisch auszuschweifen, und ob der, der mit dem Chaos paktiert hat, berechtigt war, dessen Initiatoren, Persönlichkeiten vom Format der Berchtold und Hindenburg junior , für Werkzeuge der Vorsehung auszugeben. Selbst wenn wir dem Feuilletonredner bis zu dem übersinnlichen Punkt folgen könnten, wo die Dinge wieder einen Sinn bekommen, entginge der Glaube doch nicht der Gewißheit, daß die Kultur, soweit sie erhaltenswert war, heute einigermaßen bedroht ist, wie dem Zweifel, ob das 12. Jahrhundert mit aller Aversion gegen die Juden erworbenen Geistessitz bis zur Mißhandlung wissenschaftlicher Wohltäter preisgegeben hätte. Benn meint freilich nicht, daß durch solches Verfahren just wieder ein Problem wie Rundbogen oder Spitzbogen bewegt werden soll, sondern : ein noch weit größeres. Denn die Geschichte plant nicht weniger, als »einen neuen menschlichen Typ « — also schon ganz im richtiggehenden Sinn der Berliner Literatur — aus dem unerschöpflichen Schoß der Rasse zu schicken, der sich durchkämpfen muß, der die Idee seiner Generation und seiner Art in den Stoff der Zeit bauen muß, nicht weichend, handelnd und leidend, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt. Vorläufig sind wir nur mitten drin in der literarischen Konfektion, die ja allerdings starke Beziehungen zu Wort und Tat der Stürmer und Dränger unterhält. Seine »Auffassung der Geschichte«, sagt Benn , sei eben nicht aufklärerisch und nicht humanistisch, »sondern metaphysisch«. Jenes stimmt, dieses bleibe dahingestellt. Und er nimmt den Vorwurf der Intellektuellen auf sich : er »kämpft für das Irrationale« . (Merkwürdig, daß diese Deutschen, noch wenn sie denken, kämpfen müssen : daß sie kämpfen, ist glaubhaft.) Endlich haben wir den Schlüssel. Denn : irrational heißt schöpfungsnah und schöpfungsfähig. Sie dort, ruft er jenen zu, »verstehen Sie doch endlich dort an Ihrem lateinischen Meer « (minderwertige Landschaft) : Es handelt sich — bei den Vorgängen in Deutschland — um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten. Züchten ? Halt ! Ich bin überzeugt, daß es so manche, die dabei tätig sind, nicht nur praktisch, sondern auch etymologisch mit Züchtigen verwechseln — wie man einst in Wien, als Pestgefahr drohte (aber bloß durch ein Malheur im Laboratorium) Politiker davon sprechen hörte, es sei nicht gut, Bazillen zu züchtigen . (Und wie ich auch vermute, daß viele, die der Bücherverbrennung zustimmten, das Autodafé vom Autor ableiten, wenn nicht vom Auto. Selbst das Irrationale könnten sie als kränkenden Vorwurf auffassen.) Was nun die mutierende Geschichte anlangt, so scheint sie mir auf einem Greuelbild veranschaulicht : durch jenen machthabenden Buben, der wirklich so aussieht wie das, was man sich unter dem Typ Rotzlöffel vorstellt, und der doch in der Szene groß photographiert ist, wie er Maul und Karabiner sieben kalkweißen Männern vorhält , welche stundenlang mit erhobenen Armen an der Wand stehen müssen : ehe sie durch ein Spalier prügelnder Amtswalter treppauf treppab gejagt wurden, bis sie blutüberströmt zusammenbrachen . Wenn die grausige Trophäe im Verhältnis der Zahl die Wehrlosigkeit eines Volkes vor seiner bewaffneten Minorität symbolisiert, dann wahrlich hat dieser Gottfried mit seiner Auslegung Recht, daß es sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs handelt . Nichts könnte so hervortreten wie das mutierende Gespenst dieses photographischen Alpdrucks : Phantom von einem Fant, der deutsche Männlichkeit entmannt hat . . . Der Züchtungsidee jedoch, meint er, liege die Auffassung zugrunde, daß der Mensch »zwar vernünftig« sei, aber vor allem ist er mythisch und tief. Man denke »hinsichtlich seiner Zukunft« so, daß man ihn unten am Stamme okulieren muß, denn er sei »älter als die französische Revolution, schichtenreicher als die Aufklärung dachte«. Und nun folgt ein intellektuell-mythischer, abgründig seichter Schmus : man empfinde »sehr weitgehend ihn als Natur, ihn als Schöpfungsnähe« und man erlebt ja, er ist weit weniger gelöst, viel wundenvoller an das Sein gebunden, als es aus der höchstens zweitausendjährigen Antithese Idee und Realität erklingt. Noch jüngern Datums ist die der unerlebten Zeitungsmetaphern. Wie sich aber der Typ dennoch entbunden und gelöst hat, wie wundenvoll es dabei zuging, das konnte man gleichfalls erleben. Doch Benn denkt ja nicht so, sondern irrational : Eigentlich ist er ewiges Quartär, schon die letzten Eiszeiten feuilletonistisch überladener Hordenzauber, diluviales Stimmungsweben, tertiäres Bric & Brac, eigentlich ist er ewiges Urgesicht : Wachheit, Tagleben, Wirklichkeitlocker konsolidierte Rhythmen verdeckter Schöpfungsräusche. Aber so etwas hat man noch nicht erlebt ! Da staunt der geologische Fachmann und selbst der Laie wundert sich, der mit Recht vermutet, daß Irrnationales gezeigt wird. Denn wer hätte ahnen können, daß in Schöpfungsnähe schon der Waschzettel eines Berliner Verlagshauses zu sprechen anfängt, mag es auch heute verkracht oder gar gleichgeschaltet sein ! Und alles das, um Greuelpropaganda zu entkräften ? Welch eine Ideologie der Abmurksung, die keinem am lateinischen Meer Gebornen einfiele, dort wo man zur Erklärung der Vorgänge bloß »Retour au moyen age « annimmt ! Wie irrational doch der Mensch zu denken vermag, wenn er ein Deutscher ist ; wie weit er in die zeitliche Ferne schweift, ohne den so nahe liegenden Schwindel zu kriegen ! Ein Philosoph der Walpurgisnacht rät :Gib nach dem löblichen Verlangen,Von vorn die Schöpfung anzufangen !Zu raschem Wirken sei bereit !Da regst du dich nach ewigen Normen Durch tausend abertausend Formen,Und bis zum Menschen hast du Zeit. Nun, es hat ja manches für sich, zur Erklärung der Vorgänge auf den homo primogenitus zurückzugehen und noch für die eigene Person selbstlos den Ansprüchen des homo sapiens zu entsagen. Das ist jetzt so der Brauch, und da der Intellekt sich nicht bewährt hat, hält man sich an die Vorschrift, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Benn gewinnt das philosophische Rennen : er ist nicht populär, aber er ist mythisch und tief ; er ist der wahre Deuter der Dinge. Man hätte Keyserling befragen mögen (Telegrammadresse : Weisheitling ), der sich denn auch schon geregt hat, aber für die Fortbildung der deutschen Kultur bloß um rund tausend Jahre zurückgehen will . Mit solchen Lappalien gibt sich Benn gar nicht erst ab. Er läßt sogar das Diluvium hinter sich (après lui); denn wenn man einmal im Erkennen der Zusammenhänge so weit hält, kommt es auf Zwischenstadien nicht an, und da sich die Bewegung auf Jahrtausende einrichtet, kann man die absolvierten dazuschlagen. Bezüglich einer Vergangenheit, für die ein ohnedies fragwürdiges Wissen nicht zu haben ist, verläßt man sich am besten auf den Glauben. Benn vermutet, daß jenes Quartär, dessen Fortwirkung er für die deutsche Gegenwart annimmt und für die deutsche Zukunft erhofft, hinter »den letzten Eiszeiten« gelegen ist , an die man sich noch erinnern kann und deren Genossen er bereits für ausgewachsene Schmöcke zu halten scheint. Und erst recht hinter dem Tertiär, wo bekanntlich die Mastodonten erwacht sind. Soweit sie schon Rundfunk hören und Zeitung lesen, fällt ihnen nichts auf, wiewohl sich die ungefähre Reihenfolge dieser Perioden bereits herumgesprochen hat, während man hinsichtlich der Gegenwart noch im Dunkeln tappt. Wiewohl Benn jedoch nicht zuverlässig aussagen könnte, ob es in dem Zeitraum, den er mit dem avancierten Quartär verwechselt, schon Deutsche gegeben hat, ja nicht einmal bestimmt zu wissen scheint, was ein bric à brac bedeutet, das eben keine bodenständige Bezeichnung ist, so dürfte der Hordenzauber der Eiszeit, die er dem Quartär nachstellt (während das diluviale Stimmungsweben ihm tatsächlich folgte) doch an feuilletonistischer Überladenheit nicht mit der Aera zu vergleichen sein, wo Wirklichkeitlocker konsolidierte Rhythmen verdeckter Schöpfungsräusche zur Verklärung von Vorgängen herangezogen werden, gegen die es in Chicago Polizeischutz gibt. Benn scheint tatsächlich mehr in der Eiszeit als im Quartär zu wurzeln, wenn er sie nicht etwa mit der Eisenzeit verwechselt und diese wieder mit der Periode, in der man Gold dafür gab und Blut zu Feuilletons münzte. Wie immer dem sei : wenn der Ullmann die Geologie verschluckt hätte, käme in Bezug auf die Grundlage des Dritten Reiches Solideres heraus, und noch die Auskunft des Astrologen Knieriem gäbe bessere Gewähr für die Entwicklung. Es scheint also etwas wie ein Germanimatias vorzuliegen, wie ihn sogar das postdiluvianische Schrifttum selten aufweist. Unsereiner, der vorsichtshalber im Konversationslexikon nachschaut, bevor er sich mit so unerforschten Zeiten einläßt, denkt zwar auch hinlänglich irrational und würde für das Verständnis von Dingen, die (letzten Endes ) unfaßbar sind, wenn’s sein muß bis zu den Troglodyten mitgehn — doch bis in’s Neandertal zieht sich der Weg , sobald es nämlich nicht bloß schöpfungsnah vorgestellt sein soll, sondern auch mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet, inklusive Radio. Benn freilich geht noch weiter und gelangt zu einer Hypothese. Die Gegner sollen »endlich doch verstehen« : es handelt sich hier gar nicht um Regierungsformen, sondern um eine neue Vision von der Geburt des Menschen. Ja werden denn, seit die Kugel der Menschheit beim andern Ohr hinaus ging , alle Motive der Kriegszeit lebendig ? Sind’s Träume, sind’s Erinnerungen ? »Es handelt sich in dieser Revolution —« »Jawohl, es handelt sich in dieser Revolution !« Also um eine neue Vision von der Geburt des Menschen, um nichts Geringeres. »Vielleicht um eine alte« , ergänzt Benn , der mit sich handeln läßt. Wie immer dem sei, jedenfalls erklärt sich die Einstimmigkeit des Entschlusses, mit dem sich soeben die Hebammen des Reichs hinter Hitler gestellt haben . Die Totengräber noch nicht, aber jene entschlossen sich wohl nicht nur wegen der vielfachen eugenischen Möglichkeiten, die jetzt eröffnet sind, sondern auch wegen des Verbots der Ankündigung von Schutzmitteln , für deren verläßlichstes immer noch die Haft anzusehen ist. (Die einzige Reform übrigens, in der sich das Bruderland gleichgeschaltet hat , weil es mit Recht will, daß noch mehr Österreicher nicht angeschlossen werden.) Benn aber, der zu wissen scheint, daß eine Geburt wie aller Anfang schwer sein kann, verspricht sich von der des Menschen katexochen Außerordentliches, indem er in der Verheißung dessen fortfährt, worum es sich handelt : vielleicht um die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse, wahrscheinlich um eine der großartigsten Realisationen des Weltgeists überhaupt, präludiert in jenem Hymnus »Juden raus « ? Nicht doch : Goethes »An die Natur« . . . . Denn das ist ja das Erschütternde an dem Ereignis, daß es ganz wie jener Weltkrieg nicht nur die schlichteren Idioten berauscht, sondern auch die Intellektuellen um den Verstand gebracht hat. Zufrieden bemerkte der deutsche Pressechef : Vorgestern waren in Berlin alle Fahnen ausverkauft und das ist wohl ein Beweis dafür, daß wir nun das ganze Volk hinter uns haben. Noch beweiskräftiger ist der Ausverkauf der Worte. Gewiß, kein Begriff wäre zu hoch und kein Wert zu heilig, um nicht heutigen Schreibern zum Ornament wofür immer zu taugen ; aber diese Schwärmerei der Köpfe für die Kopfjäger grenzt schon an inneres Erlebnis ! Benn , der mit Zungen redet , möchte auch jene hinreißen, die vor dem Hordenzauber der Gegenwart, der ihm bloß die Sinne übermannt hat, ausgerissen sind. Ekstatisch predigt er den Flüchtlingen , welche einer der großartigsten Realisationen des Weltgeists überhaupt aus dem Weg gingen, die Geburt des Menschen versäumt haben und vielleicht zum Tod zurecht kommen. Er sagt ihnen, daß »über diese Vision kein Erfolg entscheidet«, denn wenn zehn Kriege aus dem Osten und aus dem Westen hereinbrächen, um diesen deutschen Menschen zu vernichten und wenn zu Wasser und zu Lande die Apokalypse nahte, um seine Siegel zu zerbrechen, der Besitz dieser Menschheitsvision bliebe vorhanden, und wer sie verwirklichen will, der muß sie züchten . . . .