Da gibt es Sorgen, die man früher gar nicht geahnt hätte. Während die »Rasseprüfung von 350000 Postbeamten sich im vollen Gange befindet «, glaubt vielleicht mancher Staatsbürger, an diesen vitalsten Dingen vorübergehen zu können. Das wird aber nicht gelingen, wie uns der ‚Berliner Lokalanzeiger‘ belehrt : Die nationale Erhebung des deutschen Volkes hat aus begreiflichen Gründen auch ein starkes Wiederaufleben des Sinnes für Familienforschung gebracht. Viele Hunderttausende müssen sich — namentlich seit dem Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums — über die Frage Rechenschaft ablegen : Wer waren eigentlich deine Vorfahren, und welcher Rasse gehörten sie an ? — — Viele sitzen schon bei der (heute besonders wichtigen) Frage fest : Wie hießen eigentlich deine Großmütter mit ihren Mädchennamen ? Sonderbare Beschäftigung für eine Nation, deren Führer wohl der Meinung sein müssen, daß es mit den Butterpreisen zusammenhängt. Ein Gran Verstand wäre doch höchstens in der Hoffnung zu erkennen, daß man einer jüdischen Großmutter auf die Spur kommen wird, ein Glücksfall, der dieser Generation noch einige Aussicht offen ließe. Nur ungemischtes Blut heckt solchen Alfanz aus, der ein Volk dem Spott der Nachbarschaft preisgibt ; und was für eine kluge und kultivierte Frau, so im Berlin der Sechzigerjahre lebend, muß jene gewesen sein. Nein, als Schandfleck der Familie hat sie dazustehn, und weh dir, daß du ihr Enkel bist . Um ihrer Existenz willen verliert man seinen Posten, doch zu diesem Zweck muß man sie erst suchen ; manchem, der sie schon hat, ist man noch nicht dahintergekommen, aber die Bürokollegen munkeln bereits. Früher oder später kommt’s ja doch heraus, und der Lokalanzeiger, der diese Suche mit einer »Schnitzeljagd« vergleicht , leistet gute Dienste. Er zeigt dem, der den kostspieligen Weg zum Genealogen scheut, einen Ausweg : Zuerst die Tanten . . . Die wissen viel und haben manches aufgehoben. Auf diesem Weg ist Wahnsinn , meint Shakespeare ? Nein, die Sache wird faustisch :Göttinnen thronen hier in Einsamkeit,Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit ;Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. Nur daß es nicht die Mütter sind, sondern eben die Tanten.Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen ;Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen. Kurzum :Hier wittert’s nach der Hexenküche,Nach einer längst vergangnen Zeit. Aber wiewohl das Schaudern der Menschheit bestes Teil ist , werden vielleicht manche ihrer Führer noch besser tun, den Weg zu den Tanten zu vermeiden, etwa die Herren Goebbels und Ley , für deren Namen sich ein Vokal und ein Konsonant finden könnte, die jene in Obhut hatten. Apropos Tanten : das neue Deutschland, das den Lokalanzeiger liest, und insbesondere die jüngere Generation, verbindet mit dem Begriff eine wesentlich andere Vorstellung, als die hier zweckdienlich wäre, eher die von Onkeln, welche jedoch, ohne in einem Verwandtschaftsverhältnis zu stehen, über ein solches auch nicht Auskunft geben können, indem sie mehr die Rolle eines zärtlichen Mentors innehaben. So kommt es sehr häufig vor, daß ein Jüngling, der zu kriegerischer Hantierung neigt, zwar eine Tante hat, diese aber keinen Neffen. Das sind so deutsche Spezialitäten, die mit dem Absonderlichen, das jetzt die Welt in Staunen setzt, irgendwie zusammenhängen mögen, und soweit Politik Menschliches birgt, könnte es sich offenbaren, daß es häufig über Hintertreppen und Zwischenstufen zu hohem Rang emporführte.