Und mit der Direktheit, zu der sich die Politik aufgeschwungen hat, sei es gesagt⁠ ⁠: Dümmeres als das Benehmen der österreichischen Sozialdemokratie hat es, seit Politik zum Tort der Menschheit erfunden ist, nicht gegeben. Vertrackteres nicht als die Haltung einer Führerschaft, die vorwärts mit frischem Mut ins Verderben rennt, aber den nach hinten nicht aufbringt, die Wahrheit zu sagen. Die sich — mag der Regierungskampf gegen zwei Fronten noch so beklagenswert sein — einen Mundkampf gegen zwei Fronten anmaßt, deren tödliche sie stärkt, ohne die andere zu schwächen⁠ ⁠; die von einem »Kreuzfeuer zweier gleich gefährlicher, gleich hassenswerter Formen der Konterrevulotion« redet und konsequenter einen »Klerikofaszismus« im wahren Kampf behindert, von dem sie doch weiß, daß er mit allem, was ihr entgegen ist, ihr die Möglichkeit verbürgt, noch heute gegen ihn zu »kämpfen«. Und bis zu dem Gipfel der Unaufrichtigkeit⁠ ⁠: denn sie hat daneben Raum für die erschütterndsten Dokumente von Unglück und Ende der Bruderpartei, von den unsäglichen Leiden ihrer Gefangenen⁠ ⁠; und auch für die Aussage eines Geretteten, daß der österreichische Genosse das hohe Glück genießt, kein Untertan des Dritten Reiches zu sein. So der Chefredakteur des weiland Bruderblattes, der angibt, jene traurige Abstimmung im Reichstag, die der Fraktionspräsident als »ohne Zwang erfolgt« hinstellen mußte, sei zustandegekommen nachdem die Regierung erklärt hatte, ihr sei das Leben der Nation wichtiger als das Leben einzelner Menschen. Welche Prinzipienfestigkeit einer fern vom Schuß wirkenden Demokratie, dazu zu bemerken, eine so zustandegekommene Abstimmung sei »null und nichtig«⁠ ⁠! Das Phänomen einer Erpressung, die das Opfer noch zur Bestätigung freien Willens zwingt (und trotzdem geopfert hat), kann freilich einer Parteimacht nicht zum Bewußtsein kommen, die mit heiler Haut keine ärgere Tyrannis als den Zwang Bekessys zu überstehen hatte. Sie weiß, daß die Bruderpartei zur Rettung ihrer Reste sich mit Tod und Teufel, Reichswehr und Stahlhelm verbündet hätte, gegen Hitler die Hohenzollern herbeisehnend, für die sie ja auch entschlossen in den Weltkrieg zog⁠ ⁠; sie weiß, daß sie selbst sich, vor dem letzten Ende, von den Habsburgern vor dem Konzentrationslager bewahren ließe. Aber sie hat die demagogische Dreistigkeit, mit dem »kleineren Übel« dessen einzig vernünftige Wahl zu ironisieren und einen liberalen Betverein »Alles, nur nicht Hitler« zu höhnen, als ob das nicht ein besseres Programm wäre als das ihre und als wäre sie stark genug, nebst Hitler spielend auch alles andere zu vermeiden. Ihre Berichterstattung aus Deutschland, die überzeugender ans Herz greift als ihre Politik ans Hirn, bringt Dokumente, vor deren Fülle des Grauens und der Verzweiflung doch nichts als jener Ausruf bleibt und wahrlich kein Arbeiter, kein Gewerkschaftsführer, kein Parteijournalist anders als der liberale Betverein reagieren könnte. Denn wenn sie lesen, wie alte Genossen von einer tollgewordenen Meute gejagt werden, bis sie zusammenbrechen, mit Stahlruten ins Gesicht gepeitscht, während ihre Frauen »aufpassen müssen, was er für Gesichter schneidet«, besudelt, unter wieherndem Gelächter gemartert, bis nichts von ihm da ist als eine blutige Masse⁠ ⁠; und wie der Rädelsführer dem heroisch Sterbenden, der das Parteibekenntnis nicht widerrief, folternd Schweigen über die Folterung abpreßte⁠ ⁠: So, Matties, diesmal bist du noch gut davongekommen und ward Justizminister von Braunschweig⁠ ⁠; wenn sie nichts gelesen haben als die erschütternde Schilderung der Tat von Köpenick und die Beschreibung eines Leichenzugs⁠ ⁠: Kein Wort hatte in den Zeitungen gestanden. Wer dem andern sagte, daß heute die Ermordeten begraben werden, mußte mit Zuchthaus wegen Verbreitung von Greuelmärchen rechnen. Wer kam, wußte, daß ihm Verhaftung drohte. Aber sie waren gekommen. Arbeitslose nach stundenweitem Marsch, Junge, graubärtige Männer, Frauen mit grauenhaft versteinertem Gesicht. Manche gingen mühsam mit Stöcken, die müden Glieder, noch geschwollen von den Schlägen der Bestien, wollten sie kaum tragen. Aber sie kamen⁠ ⁠; und wenn sie nur das Bild behielten⁠ ⁠: die den Sarg trugen, waren selbst alle noch verbunden und zerschlagen — wer in ihrem Lager versagte sich da den Wunsch⁠ ⁠: Alles, nur nicht Hitler⁠ ⁠!⁠ ⁠? Ihre eigene Zeitung⁠ ⁠! Die anders politisiert als meldet und die den Notschrei verhöhnt, zu dem sie herausfordert. Die neben solchen Bildern der Hölle den Mut hat, von den »bösen Nazi« zu scherzen, welche also höchstens das kleinere Übel sind, das von den andern überschätzt wird. Aber solches könnte sie doch (für sich, kaum für andere) nur dann sittlich verantworten, wenn sie glaubhaft machen könnte, daß vom Sieg des Retters mindestens die gleiche Vernichtung droht, und wenn sie heroisch entschlossen wäre, ihr zuvorzukommen und auf der Stelle die durch den Außenfeind zu wählen.|| Die Alten haben davor gewarnt, propter vitam vivendi perdere causas, um des Lebens willen preiszugeben, was das Leben lebenswert macht. Ganz heroisch, doch selbst wenn die Alten (nicht zu verwechseln mit denen, die »wir bleiben«) nicht auch geraten hätten, primum vivere, deinde navigare (wozu doch außerhalb von Konzentrationslagern eine gewisse Möglichkeit bliebe), möchte man den Heldentod nicht beim Wort der Alten nehmen und ihm die Probe vor der einzigen Entscheidung, die er erkennt, ersparen. Vivendi perdere causas, wenn man das hohe Glück genießt, kein Untertan des Dritten Reiches zu sein⁠ ⁠:|| Freilich, um es zu verspielen, lassen sie leider nichts unversucht, indem ja die unselige Vorstellung, man wolle »den Teufel durch Beelzebub austreiben«, jenem die demokratische Mauer macht. Es ist eine fixe Gedankenlosigkeit, wie nur das bekannte Wittern der Morgenluft. Was immer Hitler mit unserer Demokratie vorhabe, sie muß unversehrt bleiben, damit er sie leichter versehre. Wir bleiben dabei, daß nur Leute, denen jede demokratische Erkenntnis und Gesinnung fehlt sich dem Gedanken hingeben könnten, gegen die Gewalt mit Auflösung ihrer Organisation vorgehen zu wollen⁠ ⁠: davon, daß zu solchen Maßnahmen jede gesetzliche Grundlage fehlte, gar nicht zu reden. Nein, nimmer würde unsere Sozialdemokratie antidemokratischen Methoden zustimmen, die sie dauernd der Möglichkeit berauben würden, in Schutzhaft genommen zu werden, und immer wird sie jenen wehren, die sie und sich und alle vor ihr zu schützen bemüht sind. Davon, daß keine Todesdrohung imstande wäre, uns gegebenenfalls zu einer Abstimmung zu zwingen, die uns nicht von Herzen kommt, gar nicht zu reden⁠ ⁠! Denn unser politisches Gedankenleben atmet frei im luftleeren Raum, in dem sich die Sachen nicht stoßen, und wehrt sich gegen die Vorstellung, daß draußen der Feind steht. Wir glauben halt, daß der auch nur Phrasen macht wie wir. »Großmutter, was hast du für ein großes Maul⁠ ⁠?« »Daß ich dich besser fressen kann⁠ ⁠!« Eine künftige Kindheit, falls Hitler und die Folgen sie aufkommen lassen, wird dem »Rotkäppchen« erst seinen Sinn abgewinnen. (Auch der Pointe der Großmutter.) Die Sozialdemokratie hat Blumen im Wald gesucht, und die unsrige wird von Glück sagen können, wenn der Jäger kommt, sie zu retten. Ein ministerieller Machthaber der deutschen Partei, heute das Opfer seiner Zuversicht⁠ ⁠: als man ihn auf das Wachstum der Bewegung hinwies, die vor seiner Nase bereits Kasernen habe, erwiderte er, umso besser könne man »sie im Auge behalten«, doch zum Einschreiten fehle »das legale Mittel«. Ein anderer Bekenner der Legalität sprach, da schon Panik herrschte und man wegen Sicherung des Parteiarchivs beriet, welches zwei Gesandtschaften in Obhut nehmen wollten, das schlichte und inzwischen geflügelte Wort⁠ ⁠: Wozu denn, Kinder⁠ ⁠? steht doch unter Denkmalschutz⁠ ⁠! So bombensicher ist kein Unterstand wie die Erwartung der Demokratie, daß der Wolf, dem sie aus Prinzip zur Entfaltung verhilft, sich dankbar erweisen, ihren Sinn für Legalität teilen, ihr Vertrauen auf die demokratischen Einrichtungen belohnen werde⁠ ⁠; und das schönste Gedenkblatt bildet jene Nummer aus der freiheitlichen Ära des Berliner Tageblatts, in der es den Hitler auf die Weimarer Verfassung, die er beschwören mußte, als er braunschweigischer Regierungsbeamter wurde, »glatt festgelegt« hat⁠ ⁠: jetzt hat er geschworen, jetzt gibt’s nichts mehr, jetzt wissen wir, daß ihn, falls er sich trotzdem zur Gründung des Dritten Reichs hinreißen ließe, unverzüglich sein Kerrl wegen Hochverrats verhaften wird. Solche rührenden Züge beweisen die Unvermeidlichkeit dessen, was kommen mußte, und daß der Denkmalschutz, unter dem die deutsche Sozialdemokratie stand, eben auf die Dauer nicht vorhalten konnte. Für die österreichische, die sich seiner noch erfreut, bestände Gefahr, wenn eine weniger legal bedachte Partei nicht Vorkehrungen getroffen hätte, um die Sehenswürdigkeit zu erhalten. Aber die Undankbaren werden ihr bei diesem Bemühen weiter mit der erhobenen Faust (die da wirklich nur eine Metapher ist) und mit dem dreimal wiederholten Ruf »Freiheit⁠ ⁠ Scherereien machen. Auflösung einer Organisation von Bombenwerfern⁠ ⁠? Es gibt gegen politische Terrorakte ein sehr viel wirksameres Mittel. Echte, kraftvolle, schöpferische Demokratie — das allein ist ein wirksames Mittel gegen den politischen Terror. Man braucht das Parlament, die »Tribüne«, man muß nach liberaler Theorie den Leidenschaften das »Ventil« schaffen. Deshalb halten wir an der Verfassung fest. Die sich noch allzeit gegen Ammonit bewährt hat und von deren bloßem Wort schon ein solcher Zauber ausgeht, daß wir es nicht oft genug hintereinander wiederholen können. Aber unsere Phrasen gehören uns. Denn als ein »Nazi«, gesetzestreu wie sie sind, »die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes« bemängelte, ertönte im Chor die Frage⁠ ⁠: Und wie ist das in Deutschland⁠ ⁠? Mündlich geht’s richtig, da kann doch nicht so gelogen werden wie im Druckverfahren. Und nun Schlag auf Schlag, immer das, was dem Leitartikler zuzurufen wäre, dessen Argumente der Nazi ins Treffen führt⁠ ⁠: »Die letzten Wochen haben neue Verfassungsbrüche gebracht.« »Vor allem gemeine Verbrechen der Nazi⁠ ⁠!« »Die Vernichtung der Preßfreiheit ist erfolgt.« »Und Bombenwürfe⁠ ⁠!« »Das Versammlungsverbot muß aufgehoben werden. Die Bevölkerung braucht ein Ventil.« »Für Bomben und Handgranaten⁠ ⁠!« Und das ist wahrer als der Zwischenrufer glaubt, denn wenn es selbst richtig wäre, daß es Bomben gibt, weil die Freiheiten »geknebelt« sind, so gäbe es ihrer bestimmt noch mehr, wenn Mäuler und Schreibmaschinen losgelassen würden. Sobald Nationalsozialisten unsere Dummheiten verwenden, kommen wir zu uns. Werden sogar übermütig, denn einer unserer Redner beklagt die Halbheit der Maßnahmen gegen diejenigen, die Zehntausende eingekerkert und gefoltert haben. Man würde also noch mehr von den antidemokratischen Maßnahmen wünschen, gegen die man täglich im Blatt protestiert, und selbst das Standrecht nicht für uneben halten. Aber auf demokratisch⁠ ⁠! Denn das gibt’s wieder nicht⁠ ⁠: der Landeshauptmann — in Sperrdruck — hat einem Nazi, der Mitglied der Landesregierung ist, die Teilnahme an der Regierungssitzung verwehrt. Er will den Abgeordneten der Nazi die Teilnahme an den Landtagssitzungen verwehren. Wie im »Hannele«⁠ ⁠: »A will er de geweihte Erde verweigern⁠ ⁠!« Das fehlte grade noch⁠ ⁠! Glaubt man, daß man die Nazi für die Dauer der besonderen Gefahr aus den Parlamenten ausschließen muß — gut, wir sind auch darüber zu reden bereit . . . Aber da muß — denn ehe man handelt, muß man darüber reden — erst ein Verfassungsgesetz gemacht werden⁠ ⁠! Gerade in dieser Zeit . . . Gerade in dieser Zeit . . . Gerade in dieser Zeit . . . Gerade in dieser Zeit . . . hat sich die schöpferische Demokratie zu bewähren. Oder⁠ ⁠: Wir haben ihn geführt . . . Wir haben ihn geführt . . . Wir müssen ihn weiterführen . . . den Kampf, na was denn sonst. Erinnert ihr euch noch — ihr Herrn —, wie wir uns nach prinzipiellster Verwahrung dagegen, daß man unsere Todfeinde aus dem Landtag befördern wolle (wo wir so oft Schulter an Schulter mit ihnen gekämpft haben), wie wir uns endlich mit dem Gesetzesbruch einverstanden erklärten, vorausgesetzt, daß er gesetzmäßig beschlossen würde⁠ ⁠? . . es fällt uns gar nicht ein, irgendetwas zu unternehmen, was den Nationalsozialisten die Wege in ihrem Kampf ebnen könnte. Diese nannten es eine »Neutralitätserklärung«, welcher aber die legale Offensive folgte, die wir dann eine »wahre Tat« nannten. Nach ihrem Vollbringen hielten wir den Klerikofaszisten vor⁠ ⁠: So muß man es machen⁠ ⁠! Und erhoben ein Siegesgeschrei, daß die kapitolinischen Gänse verstummten, jedoch die Hühner laut wurden. In fetten Lettern und unter dem Titel⁠ ⁠: Freiheit⁠ ⁠! Als der Präsident das Gesetz für angenommen erklärte, rief Püchler mit Stentorstimme in den Saal⁠ ⁠: »Es lebe die demokratische Republik⁠ ⁠!« Schneidmadl rief⁠ ⁠: »Nieder mit der braunen Pest⁠ ⁠!« Die sozialdemokratischen Abgeordneten erhoben sich von den Sitzen und brachen mit geballten Fäusten in stürmische Freiheitsrufe aus. Einige Minuten stand der Landtag im Zeichen der wuchtigen Kundgebung der Sozialdemokraten gegen den Faschismus. Welches Schauspiel von einer Metapher⁠ ⁠! Aber da sie nun schon fast auf der Barrikade standen, ergriff unser Bürgermeister eine Gelegenheit, um auszubrechen⁠ ⁠: In unserem Wien lebt wieder auf die alte Tradition der Konrad Vorlauf, der Bürgermeister, die sich nicht gebeugt haben, aller Gewalt zum Trotz, es leben wieder auf die Ideen des Jahres 1848, da Wien standhielt gegen die vereinigte Reaktion. So lag ich und so führt’ ich meine Klinge⁠ ⁠! Doch es war selbst dem Zentralorgan (vielleicht im Gedenken der Beugung durch Bekessy) zu starker Toback und es ließ einen Beifallssturm erdröhnen, der lange anhielt, aber den Vorlauf verschlang, welcher allzu leicht an das Gegenteil oder doch an den Leerlauf gemahnt hätte. Dagegen wird von einer Rede des Bundeskanzlers, der zur Zeit keine anderen Sorgen zu haben scheint, kurz vermerkt⁠ ⁠: Hauptsächlich beschäftigte er sich mit den Nazi . . . Wir aber konnten gleichzeitig und mit dem Mutteraug einen heimkehrenden Theaterdirektor, wie sehr auch die Pleite sein Antlitz verbrannt, bewillkommnen⁠ ⁠: Nun erkennt er doch, daß es in Wien gerade jetzt ungeahnte Möglichkeiten für gutes Theater gibt.