Es ist die Beschwörungsformel, die sich niemals gegen die Täter, eher gegen die Opfer, immer gegen die Boten der Tat wendet, und die dem vorwaltenden Gesellschaftsbedürfnis der Phantasiearmut gerecht wird. Hat man doch wieder den größeren Greuel mitmachen können, daß sie »es nicht glauben« und daß sie nur jenen glauben, die von einem zufälligen Standort aus einen Komplex beurteilen, der, mag er auch noch so umfänglich sein, doch gewiß nicht, und vollends nicht gleichzeitig, den ganzen Raum einer Öffentlichkeit auszufüllen vermöchte. Unerschütterlich blieb der Kredit der Deutschland-Reisenden, die von dem Faktum, daß sie »nichts gesehen haben«, darauf schließen, daß nichts geschehen sei und alles in Ordnung. So einer war ja wirklich bei mancher Unterlassung dabei, über welche er nun aus eigener Wahrnehmung glaubhaft auszusagen weiß, und daß er nichts gesehen hat, können wieder andere bestätigen, die in der gleichen Lage waren. In solchen Zeiten verfängt nicht die primitivste logische Erwägung⁠ ⁠: ob das, was geschieht, überall und überhaupt sichtbar sein müßte⁠ ⁠; geschweige denn die sittliche⁠ ⁠: ob es nicht umgekehrt richtiger wäre, einen Fall geflissentlich zu verzehnfachen, wenn es nur so gelänge, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, das Gewissen auf die Möglichkeit, und wenn es doch mit der Überzeugung unternommen würde, daß faktisch zehnmal mehr geschehen ist. Genügt denn nicht zur Vergewisserung ihres Tuns, was sie reden und wie sie leugnen⁠ ⁠? Haben die Greueltäter nicht die Greuel, die sie in Einem photographierten und dementierten, als »Folge der Propaganda« zugegeben⁠ ⁠? Wird nicht mindestens nachträglich wahr gemacht, was zuerst »gelogen« war⁠ ⁠? (Und nachträglich fast die Greuelpropaganda des Weltkriegs beglaubigt.) Als könnte überhaupt so viel gelogen werden, wie da wahr ist, und als wäre Lüge ein Vorwurf, den die Systematiker der Lüge gegen andere erheben dürften⁠ ⁠! Welche prinzipielle Unsauberkeit, das Dementi einer Ermordung, die bloß schwere Körperverletzung war, als Grundlage genereller Entkräftung zu offerieren⁠ ⁠! Und welche Erbärmlichkeit die Bereitschaft, es als Grundlage der Beruhigung hinzunehmen⁠ ⁠: weil es doch zeige, wie die gute Sache verleumdet wird, wenn man ihr Opfer als tot ausgibt, das entsetzten Augenzeugen »wie tot« dazuliegen schien⁠ ⁠! Als gäbe es ein Protokoll der Panik oder auch nur die Möglichkeit von »Information« bei einer Gewalt, die die Grabesstille, zu der sie Menschen verurteilt, noch von deren Müttern und Gattinnen erpreßt. Am 16. d. M. ging mein lieber Mann still dahin. Das Begräbnis wurde in aller Stille durchgeführt. Durch ein Mißverständnis wurde mir mein Mann entrissen. Um stilles Beileid bittet — — Unsagbarer Jammer⁠ ⁠! Kann »Übertreibung« einer Sphäre nahetreten, wo Aussage, Teilnahme und Nachforschung verwehrt ist und dem Terror nur die Furcht begegnet, Leiden zu vermehren und die Ansteckung dieser absurden Gefahr zu verbreiten⁠ ⁠? Könnte es denn, wo nur der leiseste Verdacht auf »Greuel« besteht, ein sittlicheres Tun geben als »Propaganda«, eine lügenhaftere, nichtswürdigere Fiktion als deren Vorwurf⁠ ⁠? Natürlich ist es »nicht zu glauben« und alles klingt erfunden⁠ ⁠; sei der greuliche Inhalt nun simpel oder raffiniert. Doch mit Namen, Ort, Zeit und jeglichem Umstand wird beglaubigt, was zu einfach für die Erfindung wäre⁠ ⁠: Ein Hochofenarbeiter sollte aus der Wohnung geholt werden. Die Frau bittet, ihn daheim zu lassen und hier auszufragen. Zwei Ohrfeigen strecken sie auf die Diele. Die Kinder, ein elfjähriger Knabe und ein neunjähriges Mädchen, kommen herzu, weinen, knien nieder und heben die Hände bittend für Vater und Mutter. Ein SA.-Mann nimmt den Gummiknüttel und schlägt auf die Kinder ein. Wie unglaubwürdig erst der Bericht, wenn der Vorgang der erfinderischen Phantasie von Menschenquälern entstammte⁠ ⁠: Ein unscheinbarer Jude ernährt durch Lumpenhandel seine fünf Kinder. Zu ihm kommen SA.-Leute und verlangen fünfhundert Mark. Er kann sie nicht geben, weil er sie nicht hat⁠ ⁠; er hat wohl niemals soviel Geld auf einmal gesehen. Sie schlagen ihn, daß er wimmernd auf dem Fußboden liegt. Endlich stöhnt er⁠ ⁠: »In der Kommode sind 30 Mark für die Mietrate.« Sie nehmen das Geld. Dann gießen sie ihm einen vollen Liter Rhizinusöl ein, stecken ihn in einen Leinensack, binden beim Hals zu und schleifen ihn in den Keller. Das Öl wirkt, der Mann kauert buchstäblich in Kot und Urin vier Tage. Sein Schreien hört man in der Straße. Ein Metzger befreit ihn. Als das Opfer aus der Badewanne steigt, ist sein Leib vom Schmutz angefressen, als wäre er stundenlang gefesselt in einem Ameisenhaufen gelegen. Nur einer der Fälle, wo es noch gestattet ist, einen Wirtschaftsfaktor »in der Freiheit der Entschließungen zu behindern«. Einer der tausend Fälle, wo kein Metzger, sondern die europäische Polizei einzuschreiten hätte. Einer der tausend Fälle, über die nicht nur der Saal, der es hörte, sondern die Menschheit aller Rassen und Religionen in gellende Pfuirufe ausbräche, und erst dann hätte der Vermerk Gewicht⁠ ⁠: Viele Frauen weinen. Aber die andern glauben es nicht, und die es für möglich halten, beruhigen sich bei der Aufklärung des Ehrenvorsitzenden, es handle sich um die Differenz einzelner mit dem einzelnen Lumpenhändler, die sie eben in ihrer Weise erledigt haben. Und es wäre auch ihm erspart geblieben, wenn er mit solchen Lumpen Handel getrieben hätte, denn dann hätte er mehr als dreißig Mark in der Kommode. »Ohne jeden Unterschied der besonderen Gefühlsrichtung« — als hätten sie Gefühl und Richtung — bekennen sie, daß die Greuelpropaganda eine Lügenpropaganda ist, und vertrauen auf eine Ruhe und Ordnung, nachdem deren höchster preußischer Garant die Erklärung abgegeben hat⁠ ⁠: Jeder Schuß eines SA.- oder SS.-Mannes ist ein Schuß von mir⁠ ⁠! Doch ärger als Mord ist Mord mit Lüge, am ärgsten die Lüge des Wissenden⁠ ⁠: Vorwand eines Unglaubens, der die Tat nicht glauben will, aber der Lüge⁠ ⁠; Willfährigkeit, sich so dumm zu stellen, wie die Gewalt ihn machen will⁠ ⁠; grausame Idiotie. Nein, Verlogeneres und Stupideres als diesen Begriff »Greuelpropaganda« kann es gar nicht geben, und sooft er auftaucht, sei man sicher, daß kein Greuel so schlecht erfunden sein könnte wie diese Abwehr eines schlechten Gewissens, an Schmählichkeit nur übertroffen von jenem Drang, nicht zu glauben, was man weiß, von dem Vorsatz, das Unvorstellbare auch für unwirklich zu halten und noch den Rest von Empfänglichkeit einem Mechanismus der Titellettern zu opfern, der diese Aushöhlung verbrochen hat. Und solche Gemütsart, vom Klischee ans Ungeheure gewöhnt, befestigt wieder den Gebrauch seiner Disponenten, und so können sie für die Wahrheit eine Fassung finden, die sie vor ihr verlieren müßten⁠ ⁠: Man kann ruhig sagen, daß Millionen von Menschen in Deutschland vor dem Hungertode stehen. Wie sollte freilich jener Rest von Empfänglichkeit noch vorhanden sein zur Vergegenwärtigung eines männermordenden Waltens, dessen Bericht von Verheißungen einer »Femina« durchquert wird⁠ ⁠? Wie wäre ihm die Vorstellung erlangbar einer Blutorgie johlender Landsknechte, auf deren Stichwort förmlich die Rehabilitierung eines Nachtlokals einsetzt, von dem — und im Kontrast einer SA.-Kaserne mit Recht — gerühmt wird, es sei »kein Sadistenkabarett«⁠ ⁠! Wie sollte die Hörerschaft dieser zügellosen Berichterstattung den Torturen eines alten Rabbiners Mitleid zuwenden, wenn auf demselben Blatt die Wonnen eines jüngeren Generaldirektors Ablenkung gewähren. Diesem Zeitungsbegriff einer Humanität, die das Unglück zum Marktschrei prostituiert und die noch lügt, wenn sie die Wahrheit sagt, entspricht vollauf der Habitus einer Leserschaft, die erst, wenn sie ein Tausendstel zu spüren bekommt von dem, was sie nicht glaubt, die Verbindung mit der Menschheit wieder aufnimmt. Hiebe im Zweifelsfall, damit sie an Gewalt glauben⁠ ⁠!