Hierzulande, wo sie noch nicht mit solchem Zwange wirkt, lassen sie es sich nicht nehmen, über die momentane Schwierigkeit hinaus, den Kampf der liberalen Seele »um Großdeutschland« fortzusetzen . Man sieht, wie weit ich vom Quartär abgeschweift bin, wenn ich frage : Was sagt man zur Neuen Freien Presse ? Zu einem Unternehmen, dessen Aktien auf 25 Groschen gesunken waren und das plötzlich von irgendwoher Zuschuß an nationaler Lebenshoffnung bekam . Wir stehen ja noch nicht vor der Übergabe, aber eine Verträglichkeit macht sich bemerkbar, als hätte ein unwiderstehlicher Schnurrbart den Vorzug vor der Nase der Kleopatra , die doch, wie man sich vom Weltkrieg her erinnert, eine ihrer größten Schönheiten war . An der natürlichen Verworfenheit des Neuen Wiener Journals, an dem Hang, Tatbestände zu verleugnen, zu verschweigen, im Notfall zu verfälschen und schon im Titel umzulügen, muß man nicht Anstoß nehmen. Aber was sagen die Glaubensgenossen, für die sie die Bibel war, zu den Einzelaktionen der Neuen Freien Presse ? Sie spielt Prävenire, indem sie schon jetzt alle vier von sich streckt. Es soll sie nicht überraschen wie die Kolleginnen in Berlin. Sie ist noch eine von der alten Garde, die sich ergibt, aber nicht stirbt ; und bevor noch gekämpft wird. Sie war es, die die Versicherung, daß im Dritten Reich »Ruhe und Ordnung herrscht « und »jeder deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens seinen Geschäften nachgeht «, allemal und noch nach der offiziellen Erledigung der jüdischen Ärzte und Anwälte gedruckt hat ; die am 31. März, am Vortag des Boykotts, die Feststellung einer Firma brachte, daß im Bereich ihrer Organisation, die sich über das ganze Reich erstreckt, nicht ein einziger Fall von Verfolgungen oder Angriffen auf Andersdenkende oder Angehörige fremder Staaten, bestimmter Rassen oder Religionsgemeinschaften vorgekommen sei. Ja, noch am 2. April verzeichnete sie »eine so große Anzahl von Telegrammen und Briefen«, daß sie nicht in der Lage war, sie zu veröffentlichen , aber doch der Erklärung Raum gab, daß die Geschäftstätigkeit in Deutschland bis jetzt an keiner Stelle eine Unterbrechung oder Behinderung erfahren hat im Zusammenhang mit der politischen Umwälzung. Auch die jüdische Geschäftswelt konnte bisher unbehelligt ihren Geschäften nachgehen. Dem Freimut der Bekenner, der nicht unterdrückt werden sollte, widerfuhr allerdings die witzige Einschränkung : (Diese Mitteilungen stammen sämtlich aus der Zeit vor der Verhängung des Boykotts.) Ist jemals zu einem Nichtschaden satanischerer Spott gefügt worden als durch das Dazwischentreten dieses 1. April ? Doch, durch die symbolische Klammer seiner Konstatierung ! Es waren Telegramme vom 31. März : als der Boykott längst angesagt war . Aber tatsächlich mußten solche Dokumente gerade nachher verfertigt werden, nur daß selbst die Neue Freie Presse nicht mehr die Schamlosigkeit hatte, den Hohn zu drucken. Immerhin hatte sie sie am Vortag aufgebracht zu der Verkündung, mit der der Leitartikel schloß : Die Greuelpropaganda wird von selbst in Nichts zerfallen durch die Kraft der Wahrheit. Wie die Verkünderin diesen Begriff von Wahrheit taxiert, der so datumhaft begrenzt ist, zeigte der Beginn eines Leitartikels, den sie kurz zuvor hatte, das Unbezahlbarste, das sie jemals gedruckt hat : Was wir gestern schrieben, erweist sich als völlige Wahrheit. Sonst aber läßt sie noch den »Kulturbund« erklären, daß den ihm nahestehenden »geistigen Persönlichkeiten« nicht das geringste geschehen sei ; den Touringklub, wie gut es den Juden speziell in Chemnitz geht (wo alle schon im Braunen Haus waren); Greuel meldete sie als zivile Mordfälle ohne Andeutung des Milieus und so, daß die Mörder nicht »SA.-Männer« waren, sondern schlechthin »Männer« ; Delinquenten in Österreich kommen mit dem Anfangsbuchstaben davon ; die Zentrumsmißhandlungen merzt sie aus, als wäre ich das Opfer ; im Chaos blutiger Schufterei tadelt sie die Absetzung des Dresdner Dirigenten ; eine Fälschung des Wolffbüros nennt sie ganz richtig eine »Abschwächung « ; nach einer Hitler rede betont sie »Einmütige Zustimmung der deutschen Presse« und sogar des ‚Völkischen Beobachters‘ ; und kann sich nicht genug tun, jenem zu sagen, wie viel er doch schon erreicht habe und daß er doch jetzt schon ein wenig großmütig sein könnte. Goldene Worte jedoch, wenn sie schreibt : Es gibt in dieser stürmischen Zeit nicht nur Äußerungen der Schwäche, der Servilität, der raschen Wandelbarkeit, über die man gern, wenngleich mit schmerzlichen Empfindungen, zur Tagesordnung übergehen möchte, sondern auch Kundgebungen, die wahren Mannesmut verraten . . . . wiewohl sie nicht etwa die Fälle meint, wo sie die eigene Stimme, den Orkan übertönend, zu Protesten erhob wie solchen : (Dieser Preußengeist hat keineswegs Duldsamkeit ausgeschlossen. Anm. d. Red.) (Solche Angriffe sind auf das tiefste zu bedauern. Anm. d. Red.) Aber die jüdische Red ist doch etwas kurz für den deutschen Wahn , und der Leitartikel, der nur im Sprachlichen eine gewisse Absage an das Deutschtum verrät, läßt die Gedankenflucht, auf der sich Benedikts immer befanden, als Panik erscheinen. Diese äußert sich freilich nicht lärmend, jedoch betamt. Die Sprache geht sammetpfotig um den Brei, der nicht so heiß gegessen wird. Bombenattentate sind der nationalen Sache abträglich ; die Rundfunkpropaganda stört das brüderliche Verhältnis, anstatt Sympathie und Zuneigung zu wecken ; wird sie trotz Versprechungen fortgesetzt, so kommt es darauf an, die Erwartung nicht gänzlich zu enttäuschen , daß neue Anlässe zu Streitigkeiten vermieden werden, denn die Empfindlichkeit ist angewachsen ; Schmähschriften, aus Flugzeugen herabgeworfen, sind höchst unnütze Nadelstiche. Auf solche Art, fürchtet sie, werden die Ziele der Nationalsozialisten in Österreich nicht gefördert, sondern nur jene unterstützt, die Deutschland Mißtrauen entgegenbringen und die Friedlichkeit seiner Politik in Zweifel ziehen. Zu solchen möchte sie um keinen Preis gehören ; auf die Gefahr hin, daß sich die alte »Laienfrage« erhebt, ob hier nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden werde. Sie wagt ein Bedauern daß die populäre Agitation weit über die Stränge schieße. Nie schlägt sie selbst übers Ziel ; und bis heute hält sie an der Version fest, es werde vermutet, daß der Ermordung Lessings politische Motive zugrundeliegen . Die Absage Toscaninis gibt ihr : zu denken. Solches auch vielen Abonnenten, die stutzig werden und sich fragen, warum sie nicht gleich die »Dötz« halten sollen, die ja auch nicht deutsch kann, aber doch weit mehr Greuelpropaganda treibt. Und dabei kommen sie ihr gar nicht auf die versteckten Gaunereien, die sie verübt, um länger als Lippowitz im Dritten Reich geduldet zu sein. Mit Recht verwahrt sie sich gegen die »Falschmeldung«, daß sie »in einer speziellen Auflage für Deutschland Meldungen, die dort Anstoß erregen könnten, wegläßt und durch andere ersetzt« . Das besorgt sie schon in der Auflage für Österreich und nicht bloß dadurch, daß sie solche Meldungen wegläßt, sondern auch so, daß sie sie in Falschmeldungen verwandelt. Was zum Beispiel macht sie aus dem Satz der ‚Times‘ : In Großbritannien hat es niemals eine sehr starke öffentliche Meinung für die mögliche Verschmelzung des österreichischen und des deutschen Volkes gegeben . . Das Gegenteil in Sperrdruck macht sie daraus : Es habe in England niemals eine starke Gegenbewegung um die Frage einer möglichen Vereinigung Deutschlands mit Österreich bestanden. Die Fortsetzung : Die Gewalttaten und die Außerachtlassung der guten Umgangsformen auf deutscher Seite und der betonte Widerstand der österreichischen Regierung haben die britischen Sympathien auf Seite Dollfuß’ vereinigt . . . . mäßigt sie für das Bedürfnis der Berliner »City« : Die Einstellung in Deutschland und die zu verstehende Opposition der österreichischen Regierung haben die englischen Sympathien auf Dollfuß’ Seite gebracht. Die Rede des früheren Unterstaatssekretärs Dalton auf der Pariser sozialistischen Konferenz fälscht sie so, daß sie aus der Stelle : Die Verachtung, die die Hitler -Regierung in ganz England finde, sei unvorstellbar groß. In dieser Frage gebe es in England trotz den sonstigen schweren Gegensätzen der Parteien und der Klassen nur eine Meinung, nur eine gemeinsame Stimme des Abscheus den schlichten Satz formt : Die Hitler -Regierung finde in ganz England Verurteilung. Aber sie wird der richtigen Lesart so wenig entgehen wie die Hitler -Regierung. Bestimmt sie der Wunsch, gleich den deutschen Juden unbehelligt ihren Geschäften nachgehen zu können ? Ohne Zweifel ; aber doch auch jene Gesinnung, mit deren Ausdruck meine Kommerzialräte den Weltkrieg begleitet haben : »Man hat scho genug von die Graiel «.