Man soll aber nichts übers Knie brechen, und die Erfolge im Gebiet der Kulturpolitik können sich unmöglich so rasch einstellen wie die wirtschaftspolitischen und vor allem die diplomatischen. Die Begeisterung des ‚Völkischen Beobachters‘ über den Viermächtepakt läßt sich nachempfinden, wenn man die relativ kurze Zeit berücksichtigt, in der die außenpolitischen Gebote der Partei verwirklicht wurden. Es sind freilich nur sieben, aufgestellt vom Staatsmann Kube, der ein schwärmerischer Freund der schönen Künste ist⁠ ⁠: 1. Sämtliche Deutschland aufgezwungenen Verpflichtungen des Schandvertrages von Versailles werden aufgehoben. 2. Der französische Raubstaat verpflichtet sich, für seine von seinen weißen und farbigen Horden im Rheinland, im Ruhrgebiet, in Oberschlesien und sonst begangenen Schandtaten Reparationen an Deutschland zu zahlen. 3. Die deutschen Minderheiten in Polen, der Tschechoslowakei, Dänemark, Belgien, Italien und Jugoslawien erhalten das Recht, sich durch Volksabstimmung zu Großdeutschland zu bekennen. 4. Deutschösterreich, Elsaß-Lothringen, die deutsche Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Danzig und das sogenannte Memelland werden entsprechend der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung, mit Deutschland wieder vereinigt. 5. Das niederdeutsche Flandern wird von den romanischen Wallonen getrennt und erhält das Recht, sich Holland anzuschließen. 6. Den Vorsitz in diesem europäischen Staatenbund übernimmt das Volk, das auf Grund seiner Zahl, seiner Geschichte und seiner Kultur allein den Anspruch darauf erheben kann⁠ ⁠: Deutschland. 7. Der Dawes-Plan wird mit sofortiger Wirkung aufgehoben und die Deutschland von den sogenannten »Siegerstaaten« (besser Raubstaaten) abgepreßten Beträge werden Deutschland zurückgezahlt. Diese Gebote fürs Äußere, oder sagen wir Äußerste, sind der zusammenfassende Ausdruck der innern Sehnsüchte des Führers, der sie vermutlich am Pergamonaltar beschworen hat. Natürlich konnte, da sich hart im Raum die Sachen stoßen, vorläufig nicht alles erfüllt werden, aber wenn man die Wirklichkeit bemißt und die Möglichkeit kubiert, so kann man doch sagen, daß einer der wesentlichen Parteigrundsätze sich durchzuringen beginnt⁠ ⁠: Wir lehnen es ab, wie andere Parteien tun, aus Zweckmäßigkeitsgründen unser Programm den sogenannten Verhältnissen anzupassen. Wir werden eben die Verhältnisse unserem Programm anpassen, indem wir die Verhältnisse meistern. Mit einem Feder-Zug⁠ ⁠; und nun ward der Schreiber zur Meisterung so realer Verhältnisse wie der wirtschaftlichen berufen. Jedem, der danach noch eine Frage haben wird, kann allenfalls mit dem Bescheid gedient werden, daß er lüge. Und wenn er dann noch nicht zufrieden ist, so hat man neben dem Zitat, das in allen Situationen schlagartig wirkt, das völlig umwerfende Bekenntnis⁠ ⁠: Die Stärke der nationalsozialistischen Bewegung ist bisher ihre Programmlosigkeit gewesen, die sich aus dem Ethos ergibt.|| Und dieses ist so stark, daß man das eigene Wort als üble Nachrede empfindet, wenn’s ein anderer glaubt. Gewiß, im vierten Gebot wollen wir auch die deutsche Schweiz, aber das kommt uns so absurd vor, daß nur ein Gedankenstrich am Platz ist, der uns von solchem Gelüste trennt⁠ ⁠: So hat sich vor kurzem eine Pressepolemik entwickelt, in der in allem Ernst behauptet wurde, Deutschland betreibe eine Agitation in der Eidgenossenschaft, die den — Anschluß der Schweiz zum Ziele habe. Es ist wirklich heute nichts phantastisch genug, was nicht verbreitet oder geglaubt würde, wenn es nur gegen das neue Deutschland Verwertung finden kann. Die Sache ist viel zu ernst, als daß sich die Hölle zu einem Hohngelächter entschlösse. Es ist wahr, siegreich wollen wir Frankreich schlagen aber Goebbels kann nicht verstehen, weshalb uns das Ausland kriegerische Bestrebungen vorwirft, nachdem der Kanzler unumwunden erklärt habe, daß wir nicht die geringste kriegerische Absicht haben⁠ ⁠; und »wir sagen dem Ausland die Wahrheit«. Offenbar verwechseln die Böswilligen Pläne, deren Durchführung dem nächsten Jahrtausend vorbehalten wird, mit dem, was sofort zu geschehen hat. Wohl hat der Führer (früher) in Aussicht gestellt⁠ ⁠: 48 Stunden nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus liegt der Versailler Vertrag zerrissen vor den Füßen des französischen Volkes. Insbesondere wird der § 231, der von Deutschlands Schuld am Kriege spricht und der die Grundlage des Versailler Vertrages bildet, sofort für ungültig erklärt. Eine Selbstverständlichkeit, zu der das »System« sich nicht aufraffen kann, weil es zu feig, zu pazifistisch ist, oder zu der es sich nicht aufraffen will, weil es, von Frankreich bestochen, zusammen mit dem landesverräterischen Marxismus internationale, statt ausschließlich nationale Interessen verfolgt.|||| Also sprach Hitler. Doch was beweist das⁠ ⁠? Höchstens, daß die Machtübernahme noch nicht erfolgt ist, weil es doch sonst selbstverständlich schon erfüllt wäre. Punkt eins des Parteiprogramms lautet ja doch⁠ ⁠: Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland. Für »unabänderlich« erklärt. Also sprach Hitlers Stellvertreter⁠ ⁠: In einigen Teilen des Auslandes hat sich die gegen Deutschland gerichtete Propaganda neuerdings der unwahren Behauptung bemächtigt, die NSDAP. erstrebe die Einverleibung von Teilen der Schweiz, Hollands, Belgiens, Dänemarks usw. So unsinnig diese Unterstellung ist, so findet sie doch hie und da Glauben. Die Reichsleitung legt daher Wert auf die Feststellung, daß kein ernsthafter Mensch in Deutschland daran denkt, die Unabhängigkeit anderer Staaten auch nur anzutasten⁠ ⁠! usw. sind vermutlich Österreich und die Tschechoslowakei. Jedenfalls würde daraus folgen, daß der NSDAP. kein ernsthafter Mensch in Deutschland angehört — oder doch — oder nicht — . Und also sprach Goebbels zum Vertreter der Schweiz in Genf und Neurath »pflichtete lebhaft bei«⁠ ⁠: Die Doktrin und die Politik der Deutschen Regierung richten sich keineswegs gegen die Schweiz. Das Reich würde die größte Abenteurerpolitik betreiben, die es in einen Konflikt mit einer großen Zahl von Staaten bringen würde, wenn es den Anspruch darauf erheben wollte, sich alle Bevölkerungen deutscher Rasse und Zunge einzuverleiben. Also sind die Urheber des unabänderlichen Programms die größten Abenteurer — oder nicht — oder doch — »ah was, Rotzbua jüdischer⁠ ⁠!« schnitt der Komiker Gottsleben den Dialog ab, als ihm der Partner das tägliche Extempore vorweggenommen hatte und er nun in der Verwirrung nicht mehr ein noch aus wußte. Notwehr gegen Logik. ||Außenpolitischen Querelen läßt sich einfach durch den Hinweis abhelfen, daß man sich im Innern »umso mehr zusammenschweißt«, und wer dann noch immer nicht Ruh gibt, kann dorthin kommen, wo sich Marxisten und Butterhändler zusammenfinden⁠ ⁠; gegen Miesmacher sind bereits Vorkehrungen getroffen. Als ob nicht der intelligente Propagandaminister ausdrücklich erklärt hätte, daß alle Versuche, dem Neuen mit dem Intellekt beizukommen, verfehlt seien, da jetzt nur Seele am Platz ist und vorerst mal der Gefühlsraum einzunehmen, bevor man sich Gedanken macht. Sonderbar genug, daß es die Intellektuellen eher kapiert haben als die Schlichten, die immer nachgrübeln müssen. Bei Ullstein beten sie schon⁠ ⁠: Wir wollen wieder ganz einfach und menschlich werden . . Wir wollen die Überlastung durch das Intellektuelle über Bord werfen. Nichts will man mehr, als, jeglicher Chuzpe entsagend, schlicht und ein reiner Chammer sein. Andere Freigeborne hatten’s ja leichter. Wie der Romantiker Benn sich entschlossen zum Credo quia absurdum bekannt hat, so tastet sich ehrfürchtigen Schrittes Binding (den etwas doch von Bin unterscheidet) zum Ideal der braunen Blume hin. Ich habe bisher nur seine linke Seite gekannt und insbesondere seinen Versuch, mir das Triptychon jenes Sonetts der Louize Labé nachzubilden, wobei er sich namentlich den dritten Teil zum Vorbild nahm, begünstigt von der großen jüdischen Zeitung, die nun auch zum Rechten sieht. Er antwortet Herrn Romain Rolland, der von Deutschland enttäuscht ist⁠ ⁠: Jetzt, jetzt endlich müßte sich doch eine Stimme für dieses erheben, meint er, jetzt dürfe nicht länger geschwiegen werden, und er wolle »frei über die deutschen Dinge reden«. Es erinnert in dumpfem Ringertum und Volksbesessenheit an Benn, kommt aber fließender heraus⁠ ⁠: . . Wir verleugnen nichts, noch verleugnen unsere Führer . . irgend etwas was Sie aufzählen. Wir leugnen nicht »die eigenen Erklärungen, die Aufreizungen zu Gewalt . . die Verkündigungen des Rassismus, der andere Rassen, wie die Juden, verletzen muß; die Autodafés der Gedanken, die kindlichen Scheiterhaufen von Büchern, die Eindrängung . . der Politik in die Akademien und Universitäten« — wir leugnen nicht Auswanderungen und Verfemungen. Nun also, fragt man, was bleibt da noch, um das Opfer des Intellekts zu rechtfertigen, das Binding dem Vaterland gebracht hat⁠ ⁠? Was trieb ihn zur Unterwerfung unter seine Führer⁠ ⁠? Gewiß, die Scheiterhaufen sind ein Kinderspiel gegen das Sonstige⁠ ⁠; wenngleich der Claudius-Sinn von Einfalt, fromm und fröhlich sein, vielleicht doch etwas anderes ist als der »SA-Geist«. Indes, der Glaube ist immer stärker als die Erkenntnis, und ein Intellektueller kann alles preisgeben, ohne den Trumpf zu verlieren⁠ ⁠: Aber alles das, so furchtbar es aussehen und so entscheidend es den Einzelnen oder viele treffen mag, sind Unliebsame Zwischenfälle⁠ ⁠? Unvermeidliche Begleiterscheinungen der Revolution⁠ ⁠? Einzelaktionen untergeordneter Organe⁠ ⁠? Unbefugte Eingriffe unverantwortlicher Stellen, wiewohl es keine verantwortlichen gibt und nichts Befugtes geschieht⁠ ⁠? Sonst derlei, was die hirnzermürbende Taktik der Lüge erfand⁠ ⁠? Der Literat hat eine neue Formel⁠ ⁠: Randerscheinungen, die die eigentliche Souveränität, den Kern, die Wahrheit des Geschehens gar nicht mehr anrühren. Binding, der vom Rand zum Kern vorgedrungen ist, braucht nicht zu leugnen, um zu bejahen. Er begehrt sogar auf. Das heutige Deutschland verleugne das wahre Deutschland, meint Rolland⁠ ⁠? Das sehe ja fast so aus, als ob Sie Adolf Hitler und der ganzen Nation erst beibringen müßten, was eigentlich deutsch sei. Goethe, den Sie . . als einen der großen Weltbürger anführen . ., ist so verflucht deutsch wie Göring oder Goebbels oder der SA.-Mann Müller oder ich — obgleich wir recht verschieden sind. Am verfluchtesten deutsch dürfte doch wohl er sein, der Binding solcher Gestaltenreihe. Vielleicht weiß er aber noch nicht, daß die Schriftleiter der Sache, der er sich ergeben hat, so verflucht deutsch schreiben, daß das Wiener Organ zum Abgang Einsteins kurz und schlagartig bemerken konnte⁠ ⁠: . . So hätten wir wieder einen unangenehmen Hebräer los. Egal, wenn wir ihn nur los sind, aber das los haben, worauf es nach Binding ankommt⁠ ⁠: Die Welt kann diese Revolution in ihren Tiefen gar nicht religiös genug auffassen⁠ ⁠: mit Umzügen und Zeichen, mit Fahnen und Treugelübden, mit Märtyrern und Fanatikern bei Groß und Klein bis zu den Kindern, mit Verkündungen und Verheißungen, mit einem unverrückbaren Glauben und einem tödlichen Ernst des Volkes. O, wir wissen sehr wohl um die Äußerlichkeiten . . Aber ein Volk glaubt an sich, das nicht mehr an sich glaubte. Und sein Glaube macht es schön. Dem Binding werden die Ungläubigen keinen Schwindel vormachen⁠ ⁠! Der konsequente Wirrkopf hat bereits, wie er betont, 1915 »eine Religion der Wehrhaftigkeit« erstrebt, und zwar »für alle Völker«, was zur Folge hätte daß keine Nation, auch kein Zusammenschluß von Nationen uns gewachsen wäre. Geheiligt würde die Wehrhaftigkeit dastehn. Mit einem Wort, ein deutscher Dichter. Jetzt erlebt er die Erfüllung. Er weiß, daß zunächst die dringenden Angelegenheiten des Blutes zu besorgen sind, nicht des zu vergießenden — das sind Randerscheinungen —, sondern des eigenen, welches den Kern, die Souveränität anrührt.