Denn unbezähmbar ist der Drang nach Erneuerung der Gebote, gegen den die alten nichts mehr auszurichten vermöchten⁠ ⁠; und fata-morganahaft lockt der Heiligenschein, der im Blutdunst ersteht. Daß sich die Gleichschaltung von Nibelungen und Hunnen unter der Sonne vollziehen kann, verhindert sie nicht, trotz allem, was sie sieht, zu lachen. Denn der Versuch, noch Tag und Nacht gleichzuschalten, kommt ihr untunlich vor, wie etwas, dem zum Hirn-Gespinst etwas fehlt. Doch die Erdenwelt tut unrecht, wenn sie dem, was sich in ihrer Mitte abspielt, mit Skepsis begegnet. Geschieht es nicht zum erstenmal, daß das dunkle Wort »fröhliche Urständ feiern« anschaulich wird⁠ ⁠? Bedarf’s noch einer Ursache für das, was Ursache selbst ist⁠ ⁠? Die Welt verwundert sich des Volkes⁠ ⁠: kein Wunder, daß sich das Volk der Welt verwundert. Stellt sie die Täter vor die Tat, so machen sie große Kinderaugen, wie der Wolf, dem man das Märchen vom Wolf erzählte. Denn sie haben, was sie Böses taten, doch so gut gemeint und können nicht fassen, daß man sie so arg verkennt. Auf die Gefahr hin, ihrem Bekenntnis untreu zu scheinen, dessen Parole »Juda verrecke⁠ ⁠!« mindestens als Wunsch aufgefaßt wurde, beteuern sie, nichts dergleichen sei geschehen. Es war eine Lüge, jetzt sprechen sie wahr. Gewiß, es muß ein Mißverständnis sein, und vielleicht wäre es durch die Erkenntnis zu beseitigen, daß sich hier eben mit schrankenloser Offenheit ein Wesen kundgibt, das von Natur nicht schlecht ist, nur mit spezifischen Sinneswerkzeugen sein Tun verrichtet und verantwortet. Daß der Volksgenosse die Dinge nicht glaubt, von denen er vielleicht einmal hört, mag noch durch die Absperrung zu erklären sein, die sich im Umschwung der Lebensverhältnisse als notwendig herausgestellt hat. Daß er aber auch die Dinge nicht glaubt, die er sieht, ja nicht einmal die, die er tut⁠ ⁠; daß er nicht weiß, was er tut, und sich darum gleich selbst vergibt, das zeugt von einem Gemüt ohne Falsch, dem die Andersgearteten wohl ausweichen, aber nicht mißtrauen sollten. Da ihm die Gabe ward, nicht lügen zu können, und weil es doch auch unmöglich wäre, so viel zu lügen wie der Tatbestand erfordern würde, so kann nur ein mediales Vermögen im Spiele sein, das solchem Wesen die Dinge, die aus Illusion erschaffen sind, wieder durch Illusion entrücken hilft. Schon die konsequente und auf den ersten Blick etwas stupide Vergeltung politischer Ansichten, deren Zurücknahme keinen Pardon gewährt, und gar von Tatsachen der Geburt, die durch nichts gutzumachen sind, und wenn einer auch noch so sehr bereute, Jude zu sein — schon solche Unversöhnlichkeit beweist doch, daß kein Plan am Werke ist, sondern etwas wie ein vages Sehnen, irgendwo hinaus zu wollen, vermutlich um einen Platz an der Sonne zu gewinnen, den man dem andern nimmt.Diese UnvergleichlichenWollen immer weiter,Sehnsuchtsvolle HungerleiderNach dem Unerreichlichen. Und dann wieder diese rührende Inkonsequenz, nicht nur in den Richtlinien, sondern auch in der Befolgung⁠ ⁠: wenn zum Beispiel ein Jude an der Spandauerbrücke geprügelt wird, weil er die Fahne nicht gegrüßt hat, und ein anderer Jude in der Neuen Friedrichstraße geprügelt wird, weil er durch seinen Gruß das Deutschtum beleidigt hat. Konsequent nur das Staunen, daß, wie man’s macht, es nicht recht sei. Ein S.A.-Mann prügelt auch im Ausland⁠ ⁠: Der Täter wurde sofort ergriffen und ins Gefängnis gesteckt. Als ihn die Polizei festnahm, war er außerordentlich verwundert, da er doch nicht anders gehandelt habe, als das in Deutschland üblich sei. Daheim werden Diplomaten geprügelt und gefragt, »was sie denn als Ausländer in Deutschland zu tun hätten«. Triebhaft ist es, nicht geplant. Das wäre ja eine primitive Psychologie, welche dem Traumleben, das die Maße verschiebt, Berechnung unterstellte. Durch die ganze Reihe der Gesichte, die so vom Reichstagsbrand bis zu den erfolgreichen Missionen Rosenbergs und Habichts vor uns anrückten, den Versuchen, England zu gewinnen und Österreich zu erobern, hat doch jeder Tag den Eindruck von etwas noch mehr Sonderbarem als Schrecklichem hinterlassen, zu dessen Erklärung nichts übrig bleibt als⁠ ⁠: Ehrlichkeit. Wenn die Umwelt, die sich der Armeniergreuel erinnert (gegen welche sie eingreifen konnte), an Torturen Anstoß nimmt, deren Ersinnung weit mehr Phantasie gebraucht hat als zu ihrer Erfindung nötig wäre, so bekommt sie zu hören⁠ ⁠: Glauben Sie uns, es tut uns allen weh, auf welches Unverständnis manchmal unsere Maßnahmen stoßen. Sie meinen’s nicht so⁠ ⁠; sondern immer nur anders. Sie fühlen die Vergewaltigung, wenn man ihnen Handlungen zutraut, die sie begehen. Solche Handlungen pflegen sie dann als »angeblich« zu bezeichnen, eine kurze, aber gute Formel des Entschlusses, sich auf so etwas gar nicht einzulassen, bezogen von der Unanfechtbarkeit einer Staatsmoral, die sich auf die Angeberei dessen gründet, was nicht geschehen ist. Um für den Unbefähigten eine Funktion freizubekommen, beschuldigen Taschendiebe den Funktionär der Gewinnsucht, und indem man einer gerichtlichen Überführung die ins Konzentrationslager vorzieht, wird der Verdacht erhärtet, daß er wie zum Amt zu allem fähig war. So wird das Angebliche wirklich und das Wirkliche angeblich⁠ ⁠; und das eben bedeutet den großen Durchbruch zum »neuen Zivilisationstyp«, dessen Begriff die Literaten beistellen⁠ ⁠: daß der Mörder, wenn er dazu noch lügt, nicht gemordet hat und daß die Feigheit des Mords ihm ein Heroenmaß leiht. Es ist die prinzipielle Tarnung, die sich durch das Wörtchen »angeblich« vollzieht, welches wir im Kommentar der Begebenheiten immer wieder auftauchen sehen. Daß es Greuel gibt, deren Geruch zum Himmel dringt, weiß die Welt natürlich längst und erträgt solches Wissen. Aber sie genießt offenbar auch das Schauspiel einer moralischen Ausdauer, die ihr noch heute »angebliche Greuel« offeriert, ohne die Antwort zu empfangen⁠ ⁠: Schluß⁠ ⁠! Weg⁠ ⁠! Hinaus aus dem Planeten⁠ ⁠!