Nun, das Problem der »Einrechnung der Hilfspolizei« verschwindet wohl vor der Frage, ob nicht mit jedem deutschen Zivilisten das Kontingent überschritten sei, und diese Frage ist keine Übertreibung, wenn man die »Zehn Gebote des Wehrkatechismus« liest, der auf dem Grundsatz aufgebaut ist⁠ ⁠: Jeder deutsche Mann muß moralisch und physisch vorbereitet sein, um für die Verteidigung des Vaterlands zu den Waffen zu greifen. Schon das erste Gebot geht aufs Ganze⁠ ⁠: Du mußt imstande sein, dreißig Kilometer mit einem schweren Tornister am Rücken ununterbrochen zu marschieren. Dies unbeschadet der Möglichkeit, daß die Schöpfung mit deinem Leben ganz andere Absichten verbunden hätte. Immerhin ist aber auch schon eine strategische Eventualität vorgesehen⁠ ⁠: Du mußt dich in der Kunst des Laufens und des Schießens vervollkommnen. Die musischen Führer, die die schönen Künste vorläufig noch in dieser Reihenfolge fördern, wollen allerdings mehr⁠ ⁠: Du mußt dich dauernd auf dem Laufenden halten nämlich darüber, was in den Armeen der Nachbarländer vorgeht. Mit der Generalstabskarte in der Hand »sollst du unsere Grenzgebiete durchwandern«, du mußt Karten lesen können, und wenn du im Auslande bist, den Manövern der betreffenden Staaten zu folgen trachten. Es handelt sich also in der Tat um eine Vision, aber auch um eine Konzeption und Realisation, denn es wird einfach die Ertüchtigung zur Spionage angestrebt. Die Hauptsache aber⁠ ⁠: Du mußt jährlich mindestens ein kriegswissenschaftliches Werk lesen und auf eine Wehrschrift abonniert sein. Kurzum, zehn Gebote, die offenbar der Herausgeber einer solchen verfaßt hat und die mit dem einen⁠ ⁠: »Du sollst nicht töten« in einigem Widerspruch stehen. Wenn man aber dazu noch liest⁠ ⁠: Die Behauptung, daß Deutschland für einen Krieg vorbereitet ist, ist grotesk und daß die Verantwortung auf jene falle die gegen ein Volk, das der Welt nichts zuleide tut, mit solchen Mitteln kämpfen so möchte man glauben, daß eigentlich schon mit den Geboten auszukommen wäre⁠ ⁠: »Du sollst nicht lügen« und »Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten«, aber auch nicht fälschlich behaupten, daß er es tue. Freilich wird ja die Unstimmigkeit gleich wieder durch die Beruhigung ausgeglichen, die einer jener Statthalter uns erteilt hat, die sich von ihrem früheren Beruf eine gewisse Aktivität bewahrt haben⁠ ⁠: Unsere SA. sind mit dem Grenzschutz vertraut. Und insbesondere durch die Rede jenes unvergleichlichen Papen, der ja schon während des Kriegs auf seinem Washingtoner Posten die neuen Gebote befolgt hat (wenngleich nicht das mit dem Tornister), durch jene unvergeßliche Kundgebung, worin er der Welt auf »den schönsten Tod der Welt« Gusto und aus dem »altgermanischen Abscheu vor dem Strohtod« kein Hehl gemacht hat⁠ ⁠: Als ob eine Friedensleiche ästhetischer wirken würde, als ob es nicht vielmehr darauf ankäme, in welchem Geist der Mensch stirbt, als wie seine Überreste aussehen. Es mußte aber vollends beruhigend auf das Ausland wirken, wie er dem Führer den Ruhm vorbehielt, er werde am Ende seines Lebens sagen dürfen⁠ ⁠: Ich habe deutsches Soldatentum in seinen unsterblichen Eigenschaften wieder in den Mittelpunkt des Denkens der deutschen Nation gestellt. Und vor allem die präzise Feststellung, Deutschland habe seit dem 31. Jänner 1933 den Begriff des Pazifismus aus seinem Wörterbuch ausgelöscht. Das wäre zwar nicht so erstaunlich, da er ja ein Fremdwort ist, aber tatsächlich findet sich in diesem Wörterbuch auch nicht die Friedensliebe, dort wo Franck, Frick, Freißler und sonst allerlei fröhlich und frei vorkommt. Freilich (um gleich anzuschließen) machte sich dann der interessante Widerspruch, der die Bewegung allenthalben begleitet und der nicht nur zwischen Taten und Reden, sondern auch zwischen diesen zum Vorschein kommt, schon am nächsten Tage geltend, als der Führer jene eindrucksvolle Erklärung verlas, in der die feierliche Wiedereinsetzung des Pazifismus in das deutsche Wörterbuch vorgenommen wurde und der Mittelpunkt des Denkens ausschließlich fürs Zivil reserviert erschien. Dies bis zu dem Grade, daß die SA. und die SS. auf den »Rang einer Feuerwehr oder Wach- und Schließgesellschaft« verwiesen wurden, wiewohl doch die Feuerwehr nachweislich noch niemals Ricinus ins Feuer gegossen hat und die Wach- und Schließgesellschaft nicht so sehr den Grenzschutz als den der Gewölbe innerhalb des Landes besorgt. Gewiß würde auch keiner der beiden Mannschaften der Ruhm gebühren, den derselbe Mund kurz vorher (oder auch gleich darauf) der SA. in Kiel zugesprochen hat⁠ ⁠: Ihr stellt die größte Organisation dar, die Deutschland je gekannt hat, und nicht nur eine Organisation des Willens, sondern eine der Kraft und der Gewalt. Auch hat sich bestimmt noch kein Pastor gefunden, der die Feuerwehr und die Wach- und Schließgesellschaft als »Träger des Staates« angesprochen hätte, die »wieder spüren müßten, daß das Christentum ein heroischer Glaube sei«. Wir leben, wie man sieht, in einem ewigen Zirkulus und die Welt kennt sich nicht aus, wiewohl sie leichter das Wehrhafte als das Wahrhafte erkennt, vor allem in den Reden rein pazifistischen Inhalts, hinter denen sie den Gedanken vermutet⁠ ⁠: Si vis bellum, para pacem. Sie weiß es sich darum zu schätzen, wenn es schließlich wieder Papen gelingt, die divergierenden Standpunkte in der glücklichen Formel zu versöhnen⁠ ⁠: Man muß von einem völkertrennenden Nationalismus zu einer völkerverbindenden Sicherung der Volkstümer kommen. »Das ist es«, wie weiland Kerr zu sagen pflegte, der auch ein tüchtiger Januspolitiker war. Leicht hat man’s gewiß nicht, und dieser Papen, der nunmehr noch den Nationalismus aus dem deutschen Wörterbuch gestrichen hat, in das er doch wie in kein anderes hineingehört, der Staatsmann, dem unleugbar der größte Treffer der Weltgeschichte geglückt ist, verdient sich seine Position im Schweiße seines Angesichts. Ein gewisses Wissen aber, hauptsächlich um die Geschichte der Bewegung seit dem Reichstagsbrand, ermöglicht es ihm, allen Unbilden zum Trotz durchzuhalten. Denn manche Äußerungen der Verbündeten mögen ja ein bißchen rauh klingen, wie etwa jenes Einst wird kommen der Tag, »wo mit diesen Burschen aufgeräumt wird«, oder wenn ihm als Präsidenten des Gesellentages die Zusage, die Pfaffen umzubringen, gegeben und auch teilweise ausgeführt wird⁠ ⁠; und nie ist die Lage dessen beneidenswert, der einen Gefangenen gemacht hat und von ihm ins Konzentrationslager geschickt werden könnte. Wenn die Anteilnahme, die sich in der Formel »Weit gebracht« ausprägt, jemals menschlichem Schicksal mit Recht gebührt hat, so dem dieser Barone, vor allem auch dieses schwer robottenden Neurath, der kriminellen Angelegenheiten den Weltschliff zu besorgen hat. Und ganz und gar dem Pech eines »Stahlhelms«, unter dem heute, wie in allen Erscheinungen des Staatswesens, schon verkappte Kommunisten vermutet werden. Hier ist die jüdische Anekdote von dem Knaben, der um jeden Preis Soldat werden will und dem der besorgte Vater einen vorbeigehenden preußischen General zeigt⁠ ⁠: »Siehst du, das wird dein Soff sein⁠ ⁠!« — tragische Wahrheit geworden. (»Soff« bedeutet so viel wie letzten Endes.) Gewiß ward es den Gardekürassieren und Junkern nicht an der Wiege gesungen, daß sie einst, und gar nach einem Diktat österreichischer Herkunft, vor Landsknechten stramm stehen würden. Und gar dieses Oberhaupt⁠ ⁠: welche Abdikation des Marschallstabes vor dem Tornister⁠ ⁠! Aber ist es nicht doch wieder schön, wenn Prinzen Sekretäre von Männern sein dürfen, die sich aus eigener Tüchtigkeit emporgearbeitet haben⁠ ⁠? Goebbels hat einen Schaumburg-Lippe, der ihm nicht nur Adjutant, »sondern auch feurigster Anhänger« ist⁠ ⁠; Goering, Zar aller Preussen, lebt schon ganz in der Tradition dynastischer Verknüpfung, nämlich durch einen Hessen, dessen Bruder der Schwiegersohn des Königs von Italien ist. Am Telephon meldet er sich nie anders als⁠ ⁠: »Hier Vorzimmer des Herrn Ministers.« Nicht ein einzigesmal Name oder Rang. Die Söhne dieser historischen Geschlechter sind eben fanatisch stolz darauf, nichts anderes zu sein, als die Sekretäre im Vorzimmer eines nationalsozialistischen Ministers. Nein, das Vorzimmer selbst⁠ ⁠! Doch Hugenberg, der von der ersten Walpurgisnacht kam, der harzburgischen, erlebte die Enttäuschung Mephistos an den Schwierigkeiten der klassischen⁠ ⁠:Da muß ich mich durch steile Felsentreppen,Durch alter Eichen starre Wurzeln schleppen⁠ ⁠!Auf meinem Harz der harzige DunstHat was vom Pech und das hat meine Gunst⁠ ⁠;Zunächst der Schwefel . . . . Wiewohl’s den auch hier gibt, aber⁠ ⁠:Man denkt an das, was man verließ,Was man gewohnt war, bleibt ein Paradies. Ja, man irrt in der Wirrnis⁠ ⁠; so geht’s auch mir, dem, noch ganz anders als im Weltkrieg, stets »Geröll entgegensteht«, und vielleicht ist, während ich mich durchtappe, schon alles nicht mehr da und selbst Papen, lange nach Befreiung von der Würde, nicht mehr im Amt, sondern irgendwo festgehalten am obern Peneios. Vielleicht jedoch geht alles gut aus, indem die vom Herrenklub noch den Adel behalten dürfen mit Nachsicht der Taxe, die sie jüdischen Damen verdanken. Schließlich bleiben sie, vielleicht vermöge dieser Verbindung, doch etwas, was auch nicht gerade ihre starke Seite war⁠ ⁠: Verbindungsoffiziere mit der »Welt«, die auf Formen welcher Art immer Wert legt, wenn es nur Formen sind⁠ ⁠; und so mag selbst die Sicherung der Volkstümer gelingen, die bisher nicht ihre größte Sorge gebildet hat. Sie leitet sachte über zum Weltbürgerlichen, hinter dem sich das Deutschstämmige, Deutschbewußte ungehindert ausleben kann. Der Kern ist rauh, aber die Schale ist gut. Die Revolution, die aus den Begleiterscheinungen besteht, mag sogar erheischen, daß »Intoleranz befohlen« wird⁠ ⁠; umso notwendiger, daß alles richtig dosiert sei und zum Mund der Feinde gesprochen, die wieder zu heucheln beginnen. Denn nun entrüsten sie sich gar darüber, daß im Dialog unseres Nationaldramatikers Stellen vorkommen wie diese⁠ ⁠: »Die Sache die die Brüder da aufgezogen haben, die Sache von Weltgemeinschaft und Humanität . . von Völkerfrieden und so weiter — diese Rechnung stimmt nicht.« »Das Volk schreit nach Priestern, die den Mut haben, Blut, Blut, Blut zu vergießen, nach Priestern, die schlachten.« »Wir müssen einen Keil zwischen die Verständigung treiben . . dann kann man den Franzosen Ameisen in die Hosen setzen.« (Die gibt’s auch schon in der klassischen Walpurgisnacht.) »Recht oder Unrecht — das ist mir doch alles scheißegal⁠ ⁠! Ich bin Soldat und ich bleibe Soldat⁠ ⁠ »Nein, zehn Schritt vom Leib mit dem ganzen Weltanschauungssalat — hier wird scharf geschossen⁠ ⁠! Wenn ich Kultur höre — entsichere ich meinen Browning⁠ ⁠!« Und das wagen sie mit dem von uns ausgesprochenen Friedenswillen zu kontrastieren⁠ ⁠! Und das nennen sie »ein erschreckendes Bild vom geistigen Zustand Deutschlands«⁠ ⁠! Sind es nicht Pharisäer⁠ ⁠? Aber man hat sie erkannt⁠ ⁠: Völkerbundrat enthüllt sein wahres Gesicht⁠ ⁠! Alle Staatenvertreter für die Juden⁠ ⁠! Ja, so sind sie, und finden es am Ende ungemäß, daß die Rede Papens, mit der er dem Nationalismus abschwor, im Teutoburger Wald gehalten wurde, von welchem sie geglaubt hatten, daß er gar nicht mehr bestehe, sondern längst zu Zeitungspapier verwandelt sei. Dem ist aber nicht so, denn im Gegenteil halten sich dort noch Buschräuber auf, die, sooft sich der Wanderer zur Wehr setzt, »fair play« verlangen. Wenn der sich dann vollends nicht auskennt, so greift der Kultusminister ein, jener Rust, der im Ausbruch der Begeisterung das Vaterland von der Wissenschaft befreit hat, und der nun sich mit aller Schärfe gegen den Pazifismus wandte und unter großem Beifall erklärte, daß die internationale Atmosphäre niemals sauberer sein könne, als wenn die einzelnen Völker mit Hochachtung vor den gegenseitigen Lebensrechten einander gegenübertreten. Aus dieser glücklichen Verbindung der Kontraste zu einem Dilemma gelingt es dann wieder der ‚Vossischen Zeitung‘ den Ausweg zu finden⁠ ⁠: Deutschland wünsche selbst vaterländisch und nationalbewußt eingestellt, seine rechtverstandene Weltbürgerlichkeit zu erhalten, die friedliche Gemeinschaft der Völker höherstellt als alle Bestrebungen, die nur aus blindem Machthunger einer Nation entspringen. Man muß es nur recht verstehen, und vor allem begreifen, daß das Aufziehn des Weltanschaulichen bei einer Staatsgründung keine so einfache Chose ist, besonders wenn die Kompetenzfrage wie überall so auch hier auf Schwierigkeiten stößt und die Zeitungen nicht wissen, wann und von wem sie sich ihren Fußtritt zu holen haben.