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Man hat die Variété- und Revue-Künste der Demimuse mit den
wahren Musen nur allzuoft leichtfertig gleichgesetzt, obschon man es
nicht nötig hatte im Anblick der reinen Kulturgesinnung eines
Thomas Mann, der Naturoffenbarung einer Käthe Dorsch
und der reellen Gestaltungspa! moderner Architekten. In künftiger Zeitjedoch wird die Kultur nicht mehr
mit »ideologischer Rhetorik, Oppositionskritik und
nackter Sensation« verwechselt werden. Nur sei der
Begriff »deutsch« auch auf Reinhardt auszudehnen
und zu beachten, daß außer Volkslied und deutscher
Sage »auch jene geheimnisvollsten Gebilde eines
Goethe oder Beethoven aus dem Geist der Land-
schaft und der gemeinsamen Sprache entstanden«
sind. Diebold verlangt viel auf einmal, aber er harrt
in Zuversicht : Eine Willensbildung, die eine volksmäßige Kulturein-
heit erstrebt, braucht nicht auf höchste geistige Formung
zu verzichten. Wie sie das machen soll, sagt er nicht, aber »der
Bart hat’s in sich«, verriet mir einst ein Friseur, der
mir auch polemischen Mut machte durch das Sprich-
wort : »Gut eingeseift ist halb rasiert«. Und nun ge-
langt Diebold dorthin, wo er hinaus will, zu Hitler
und gegen mich : Jeder Wille zur Einheit ist fruchtbarer für die Gesamt-
heit als jene Art von Individualismus, die nur sich
selber kennt. Die ganz großen Persönlichkeiten
denken und wirken immer als die Verantwortlichen für das Ganze
ihrer Gemeinschaft. Schulbeispiel dafür, welches Gesumms so ein deutscher
Kopf macht mit Termini à la Willensbildung, Wille
zur Einheit, Kulturbildung, Kultureinheit, geistige
Formung und was es derlei noch gibt, damit letzten
Endes ein Tineff herauskommt. Ich möchte glauben,
daß der Wille zur Angeberei dem Diebold noch
fruchtbarer erscheint, als was ihm sonst vorschweben
mag. Mir jedenfalls stärker als die Überzeugung,
die er vom Denken Hitlers im Herzen trägt. Aber
da nun einmal aus solchem Literatenwesen Tat
wahren Musen nur allzuoft leichtfertig gleichgesetzt, obschon man es
nicht nötig hatte im Anblick der reinen Kulturgesinnung eines
Thomas Mann, der Naturoffenbarung einer Käthe Dorsch
und der reellen Gestaltungspa! moderner Architekten. In künftiger Zeit
mit »ideologischer Rhetorik, Oppositionskritik und
nackter Sensation« verwechselt werden. Nur sei der
Begriff »deutsch« auch auf Reinhardt auszudehnen
und zu beachten, daß außer Volkslied und deutscher
Sage »auch jene geheimnisvollsten Gebilde eines
Goethe oder Beethoven aus dem Geist der Land-
schaft und der gemeinsamen Sprache entstanden«
sind. Diebold verlangt viel auf einmal, aber er harrt
in Zuversicht : Eine Willensbildung, die eine volksmäßige Kulturein-
heit erstrebt, braucht nicht auf höchste geistige Formung
zu verzichten. Wie sie das machen soll, sagt er nicht, aber »der
Bart hat’s in sich«, verriet mir einst ein Friseur, der
mir auch polemischen Mut machte durch das Sprich-
wort : »Gut eingeseift ist halb rasiert«. Und nun ge-
langt Diebold dorthin, wo er hinaus will, zu Hitler
und gegen mich : Jeder Wille zur Einheit ist fruchtbarer für die Gesamt-
heit als jene Art von Individualismus, die nur sich
selber kennt. Die ganz großen Persönlichkeiten
denken und wirken immer als die Verantwortlichen für das Ganze
ihrer Gemeinschaft. Schulbeispiel dafür, welches Gesumms so ein deutscher
Kopf macht mit Termini à la Willensbildung, Wille
zur Einheit, Kulturbildung, Kultureinheit, geistige
Formung und was es derlei noch gibt, damit letzten
Endes ein Tineff herauskommt. Ich möchte glauben,
daß der Wille zur Angeberei dem Diebold noch
fruchtbarer erscheint, als was ihm sonst vorschweben
mag. Mir jedenfalls stärker als die Überzeugung,
die er vom Denken Hitlers im Herzen trägt. Aber
da nun einmal aus solchem Literatenwesen Tat
| aber
Jerusalemer Konvolut, fol. [33] recto
Pagination oben rechts: "33". (Tinte, schwarz (Karl Kraus))
Textträger
Standort, Signatur:
Grundschicht, Material: Fahnenabzug, Höhe 210 mm, Breite 142 mm
Zustand
Bibliotheksstempel der National Library of Israel, Jerusalem, recto, unten rechts.
Weitere Textschichten
- Tinte, schwarz (Karl Kraus)
Datierung (terminus post quem)
Grundschicht: 16. 04. 1933 (zitierter Text)