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Jedem Worte klingt
Der Ursprung nach, wo es sich her bedlngt.
Nur daß man jenen eben nie die Aktivität zugetraut
hätte, deren die Bodenständigen fähig sind ; ganz
abgesehen davon, daß bisher noch kein Journalist
einen richtiggehenden Prinzen zum Adjutanten
gehabt hat. Diese Fixigkeit in dem, was sie »Auf-
ziehn der Chose« (oder auch der »Kiste«) nannten,
setzt die gerissensten Kulturfaiseure in Staunen,
die det Kind ja immer schon geschaukelt
haben, beschämt alle Wunder einer entthronten
Theaterregie, läßt aber auch die Vertreter einer
bessern Sache bedauern, daß ihr solch eine
Kraft als Minister für Greuelpropaganda ver-
loren ging. Und doch hat sich eben im Tonfall
der deutschen Welt nichts verändert. Mit den glei-
chen geistigen Mitteln erfolgt die Verankerung
dessen, was heute zu verankern ist, Vision ist Phrase,
Rhythmus das alte Überbleibsel der Syntax, das
der Expressionismus für kollektives Erlebnis festge-
legt hat, und sogar verdrängte Komplexe, die doch
zweifellos verdächtiger Herkunft sind, finden Unter-
kunft. Hat doch selbst der Führer, dessen Ausdrucksver-
mögen keineswegs von Gundolf geschult wurde
und dessen Weltbild nicht so sehr durch Freud als
durch Karl May geformt scheint, bereits den Minder-
wertigkeitskomplex beklagt, an dem die Nation
leide. Was tat aber bisher das Theater ? Es trieb den Individualismus auf die Spitze, indem es die verdrängten
Komplexe irgendeines kranken Menschen auf die Bühne brachte. Das
nannte man l’art pour l’art. Der Kulturbevollmächtigte weiß alles auf einmal,
er ist im ganzen Umkreis der literarischen Termino-
logiezu Hause, jener Abstrakta, die in Berlin jede
Schreibmaschine von sich gab, und er weiß gelegent-
lich sogar an jene polemisch-satirische Note an-
zuknüpfen, der ich oft das Objekt vorzog, wenn
sie etwa »Röllchen« als Anzeichen zivilisatorischer
Rückständigkeit hechelte, den »Vollbart« (auch
»Würdebart« oder »Rauschbart« genannt) geißelte
hätte, deren die Bodenständigen fähig sind ; ganz
abgesehen davon, daß bisher noch kein Journalist
einen richtig
gehabt hat. Diese Fixigkeit in dem, was sie »Auf-
ziehn der Chose« (oder auch der »Kiste«) nannten,
setzt die gerissensten Kulturfaiseure in Staunen,
die det Kind ja immer schon geschaukelt
haben, beschämt alle Wunder einer entthronten
Theaterregie, läßt aber auch die Vertreter einer
bessern Sache bedauern, daß ihr solch eine
Kraft als Minister für Greuelpropaganda ver-
loren ging. Und doch hat sich eben im Tonfall
der deutschen Welt nichts verändert. Mit den glei-
chen geistigen Mitteln erfolgt die Verankerung
dessen, was heute zu verankern ist, Vision ist Phrase,
Rhythmus das alte Überbleibsel der Syntax, das
der Expressionismus für kollektives Erlebnis festge-
legt hat, und sogar verdrängte Komplexe, die doch
zweifellos verdächtiger Herkunft sind, finden Unter-
kunft. Hat doch selbst der Führer, dessen Ausdrucksver-
mögen keineswegs von Gundolf geschult wurde
und dessen Weltbild nicht so sehr durch Freud als
durch Karl May geformt scheint, bereits den Minder-
wertigkeitskomplex beklagt, an dem die Nation
leide. Was tat aber bisher das Theater ? Es trieb den Individualismus auf die Spitze, indem es die verdrängten
Komplexe irgendeines kranken Menschen auf die Bühne brachte. Das
nannte man l’art pour l’art. Der Kulturbevollmächtigte weiß alles auf einmal,
er ist im ganzen Umkreis de
logie
Schreibmaschine von sich gab, und er weiß gelegent-
lich sogar an jene polemisch-satirische Note an-
zuknüpfen, der ich oft das Objekt vorzog, wenn
sie etwa »Röllchen« als Anzeichen zivilisatorischer
Rückständigkeit hechelte, den »Vollbart« (auch
»Würdebart« oder »Rausc
|₰
| s
| der
Jerusalemer Konvolut, fol. [37] recto
Pagination oben rechts: "37". (Tinte, schwarz (Karl Kraus))
Textträger
Standort, Signatur:
Grundschicht, Material: Fahnenabzug, Höhe 210 mm, Breite 142 mm
Zustand
Bibliotheksstempel der National Library of Israel, Jerusalem, recto, unten rechts.
Weitere Textschichten
- Tinte, schwarz (Karl Kraus)
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Datierung (terminus post quem)
Grundschicht: 08. 05. 1933 (zitierter Text)